Das Jahr 1848 markierte für die Schweiz einen Meilenstein. In diesem Jahr wurde die Verfassung verabschiedet, die das Fundament der modernen Schweiz bildet. Nach dem Ende des Sonderbundkrieges machte sich eine 23-köpfige Kommission an die Reform des Bundesvertrags. Die Revisionskommission hielt am 17. Februar 1848 ihre erste Sitzung ab, und bereits 51 Tage später lag der Text der neuen Bundesverfassung vor. Am 12. September 1848 erklärte die Tagsatzung sie als angenommen. Die Schweiz wurde damit vom Staatenbund zum Bundesstaat und zur ersten stabilen Demokratie Europas.
Am 12. September 2023 feiert die Schweiz also 175 Jahre Demokratie. Die Bundesverfassung von 1848 war ein visionärer Gesellschaftsvertrag für die Schweiz! Unterlegene Gruppen und Minderheiten wurden bewusst in den Gesellschaftsvertrag der Schweizer Kantone einbezogen und eingebunden, und vereinzelte Grundechte wie beispielsweise die Pressefreiheit oder die Religionsfreiheit wurden bereits explizit aufgeführt, wobei die jüdische Minderheit vom Grundrecht der Religionsfreiheit ausgeschlossen war. Überhaupt galten die Bürgerrechte – zum Beispiel das Stimm- und Wahlrecht, die Niederlassungsfreiheit oder die Wehrpflicht – zu Beginn nur für Männer mit christlichem Glauben. Es brauchte jahrzehntelange politische Diskussionen und Kämpfe, um die Bundesverfassung zu einem Grundgesetz für eine Mehrheit im Land zu machen. Dazu waren zahlreiche Anpassungen und Ergänzungen und zwei Totalrevisionen nötig. In der Folge veränderte sich aber nicht nur das Grundgesetz des Landes, sondern – damit verbunden – auch die Staatsform. War der Bundesstaat 1848 noch eine repräsentative Demokratie, wurde er mit der Einführung des fakultativen Referendums 1874 und des Initiativrechts 1891 zur direkten Demokratie.
Unvollständige Demokratie muss weiterentwickelt werden
Doch bis 1971 war die Schweizer Demokratie nur eine halbe: Die vollen Bürgerrechte standen nur den männlichen Schweizer Bürgern zu. Die Hälfte der Bürger:innen war von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen. Erst am 7. Februar 1971, nach jahrzehntelangem Kampf von Frauenrechtlerinnen und Frauenverbänden, wurde mit der Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen die Schweiz endlich zu einer vollständigen Demokratie.
Einer fast vollständigen Demokratie muss man allerdings sagen. Denn ein Viertel der heutigen Schweizer Bevölkerung hat keinen Schweizer Pass. Das heisst: Jede vierte in der Schweiz lebende Person verfügt nach wie vor über keine politische Mitbestimmung. Zwei Millionen Menschen sind es aktuell, die in der Schweiz zuhause sind, hier leben und arbeiten, ihre Kinder aufziehen und Steuern zahlen. Doch politisch mitentscheiden und die Zukunft des Landes mitgestalten dürfen sie nicht. Eigentlich wäre zu erwarten, dass in einer Demokratie alle volljährigen Menschen, welche dauerhaft hier wohnen und Steuern bezahlen, das Wahl- und Stimmrecht besitzen sollten. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Einbürgerung, die Voraussetzung dafür ist, den Schweizer Pass zu erhalten, erweist sich häufig als Hindernislauf mit hoch gesetzten Hürden, und das Einbürgerungsverfahren ist oft willkürlich – auch weil Kantone und Gemeinden ihre jeweils eigenen Voraussetzungen festlegen und eigene Verfahren anwenden. So variiert das Einbürgerungsverfahren je nach Kanton und Gemeinde sehr stark und kann unterschiedlich lange dauern und unterschiedlich viel kosten. Dies führt dazu, dass die Anforderungen schweizweit sehr ungleich sind, was heute zunehmend als ungerecht und stossend empfunden wird.
Eine Volksinitiative «Für ein modernes Bürgerrecht (Demokratie-Initiative)», die kürzlich lanciert wurde, fordert deshalb, dass neu ein Bundesgesetz überall gleiche Bedingungen für die Einbürgerung festschreibt. Das heisst: Wer seit fünf Jahren rechtmässig in der Schweiz lebt, wer nicht zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, wer die innere und äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährdet und Grundkenntnisse in einer Landessprache hat, erhält den Schweizer Pass. Einbürgerung soll nicht länger ein Akt der Willkür sein, sondern anhand objektiv messbarer und klarer Kriterien erfolgen.
Als Interreligiöser Think-Tank unterstützen wir die Demokratie-Initiative voll und ganz und hoffen, dass heute, 175 Jahre nach Inkraftsetzung der Bundesverfassung – ähnlich visionär wie für die damalige Zeit – ein Gesellschaftsvertrag formuliert wird, der inklusiv ist und alle Bevölkerungsgruppen einschliesst. Damit würde die Schweiz einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer wirklich vollständigen Demokratie machen, in der alle Mitglieder der Gesellschaft, die dauerhaft in der Schweiz leben, über das Recht auf politische Teilhabe verfügen.
Religionsfreiheit gilt nicht für alle Religionsgemeinschaften in gleichem Masse
Als eine der Errungenschaften der Bundesverfassung von 1848 gilt auch die Garantie religiöser Freiheiten. Artikel 44 der Verfassung gewährte den anerkannten christlichen Konfessionen das Recht zur freien Ausübung des Gottesdienstes auf dem ganzen Gebiet der Eidgenossenschaft. Vor dem Hintergrund der starken konfessionellen Spannungen jener Zeit bedeutete dies einen wichtigen Schritt. Die Garantien der Verfassung von 1848 waren aus heutiger Sicht in vielem noch unvollständig: So wurde die Kultusfreiheit nur den «anerkannten christlichen Konfessionen» gewährt, und die Niederlassungsfreiheit wurde nur den «Schweizern, welche einer der christlichen Konfessionen angehören», zugesichert. Damit wurden namentlich Jüdinnen und Juden ausgeschlossen. Erst mit der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 wurde in Art. 49 die Unverletzlichkeit der Glaubens- und Gewissensfreiheit für alle formuliert. Art. 15 der heutigen Bundesverfassung garantiert die Glaubens- und Gewissensfreiheit wie folgt: 1. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet. 2. Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen. 3. Jede Person hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen. 4. Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen.
Die Religionsfreiheit ist ein hohes Gut einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft. Dennoch ist sie bis heute ein umstrittenes Grundrecht geblieben und wurde in jüngerer Zeit durch neue Artikel in der Verfassung wie das Minarett-Verbot (2009) und das Verhüllungsverbot bzw. «Burka-Verbot» (2021) wieder eingeschränkt. Damit wurden durch Volksinitiativen, also mit Mitteln der Demokratie, in der Bundesverfassung Verbote verankert, die explizit gegen eine bestimmte Religionsgemeinschaft, nämlich die muslimische, gerichtet sind. In beiden Abstimmungskampagnen wurde das Thema «Islam» durch rechtspopulistische und fremdenfeindliche Kreise instrumentalisiert und Musliminnen und Muslime stark stigmatisiert. Wie der neueste Bericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR zum Thema «Antimuslimischer Rassismus» zeigt, hat sich in den vergangenen Jahren das Problem hasserfüllter, hetzerischer, rassistischer und diskriminierender Äusserungen gegenüber Musliminnen und Muslimen in sozialen Netzwerken zugespitzt. Doch auch in der breiten Bevölkerung sind negative Stereotypen und Vorurteile gegenüber dem Islam und den Musliminnen und Muslimen stark verbreitet, nicht zuletzt aufgrund einseitiger medialer Berichterstattung, und werden dazu benutzt, um die Diskriminierung von Musliminnen und Muslimen in den Bereichen Gesellschaft, Rechtssetzung und -anwendung, Polizei, Gesundheitswesen, Einbürgerung, Arbeitswelt, Wohnungssuche, Bildung und Religionsausübung zu rechtfertigen. Der Interreligiöse Think-Tank ist besorgt über diese Entwicklungen. Ein Teil der Schweizer Bevölkerung wird ungleich behandelt und stigmatisiert und den Musliminnen und Muslimen so das Gefühl vermittelt, nicht in den Gesellschaftsvertrag eingeschlossen zu sein.
Auch die staatliche Ungleichbehandlung der verschiedenen Religionsgemeinschaften ist gegenwärtig ein Thema, das diskutiert wird und nach einer Lösung verlangt. Öffentlich-rechtlich anerkannt sind in allen Kantonen (ausser Genf und Neuenburg) die römisch-katholische Kirche und die evangelisch-reformierte Kirche. In einzelnen Kantonen sind auch die christkatholische Kirche und jüdische Gemeinden öffentlich-rechtlich anerkannt. Die staatliche Anerkennung der christlichen Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts ist zudem mit Privilegien verbunden: z.B. Erhebung von Steuern bei ihren Mitgliedern und bei juristischen Personen, Religionsunterricht in den Schulen, Seelsorge in Spitälern und der Armee, Zuschüsse vom Staat. Demgegenüber sind die anderen Religionsgemeinschaften benachteiligt, da sie mehrheitlich ohne diese Privilegien auskommen müssen. Allerdings zeichnen sich diesbezüglich ein paar positive Entwicklungen ab: So gibt es neu in der Schweizer Armee einen muslimischen und zwei jüdische Armeeseelsorger. In einigen Kantonen arbeiten schon seit längerem neben christlichen vereinzelt auch muslimische Seelsorgende in Spitälern, Alters- und Pflegezentren, im Unterschied zu den christlichen allerdings nur auf ehrenamtlicher Basis, wobei es hier ebenfalls positive Entwicklungen gibt. Auch in Bundesasylzentren sind schweizweit momentan sieben muslimische Seelsorgerinnen und Seelsorger unterwegs, die gemäss dem neuen Asylgesetz inskünftig vom Bund entschädigt werden sollen. Für die Musliminnen und Muslime wäre das neue Gesetz ein wichtiger Schritt, weil damit die Finanzierung der muslimischen Asylseelsorge sichergestellt und auch ein Zeichen der Anerkennung der Arbeit im Dienste der Allgemeinheit gesetzt wäre. Als Nächstes kommt die Vorlage ins Parlament. Es ist zu hoffen, dass sie bei den Politikern und Politikerinnen die nötige Unterstützung findet.
Ein weiteres Konfliktfeld in Sachen Religionsfreiheit, das immer deutlicher zu Tage tritt, ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Verfassungsartikel der Religionsfreiheit (Art. 15) und dem Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2) und der Verankerung der Gleichstellung von Mann und Frau in der Bundesverfassung (Art. 8 Abs. 3). Viele Religionsgemeinschaften weisen in ihren internen Ordnungen diskriminierende Elemente auf, besonders bezüglich der Gleichstellung von Mann und Frau. Dies ist besonders offensichtlich im Fall der römisch-katholischen Kirche, die öffentlich-rechtliche Anerkennung geniesst und damit von staatlicher Privilegierung profitiert, in ihrer internen kirchenrechtlichen Ordnung aber mit dem Ausschluss der Frauen vom Priesteramt gegen den Gleichstellungs- und Diskriminierungsartikel in der Bundesverfassung verstösst. Die herrschende rechtliche und politische Praxis stellt in diesem Fall also die Religionsfreiheit (Art. 15 BV) bzw. das Selbstbestimmungsrecht der römisch-katholischen Kirche über den Grundsatz der Nichtdiskriminierung (Art. 8 Abs. 2 BV) und der Gleichstellung von Mann und Frau (Art. 8 Abs. 3 BV). Die Frage, inwieweit diese Gewichtung heute noch vertretbar ist und wie gesellschaftlich und rechtlich mit dieser Spannung zwischen dem Grundrecht der Religionsfreiheit und anderen Grundrechten umzugehen ist, wird in einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft zunehmend dringlich werden.
All dies zeigt: Auch in Bezug auf die Religionsfreiheit gibt es also heute, 175 Jahre nach der Einführung des betreffenden Verfassungsartikels, Handlungsbedarf.
Demokratie als Prozess
Die demokratische Verfassung der Schweiz ist ein hohes und kostbares Gut, dem es Sorge zu tragen gilt – gerade angesichts der Situation, dass die demokratische Staatsform in vielen europäischen Ländern zunehmend unter Druck gerät und es auch in der Schweiz Gruppierungen gibt, die den Staat als Feind betrachten und seine Institutionen grundsätzlich in Frage stellen. Dies heisst nicht, dass die Schweizer Demokratie die beste aller Demokratien ist und kein Veränderungsbedarf besteht. Aber es braucht nicht weniger, sondern mehr Demokratie. Demokratie ist ein Prozess. Die Schweizer Demokratie hat sich seit 1848 entwickelt und muss heute weiterentwickelt werden: Es braucht einen neuen, inklusiveren Gesellschaftsvertrag. Ein Staat, in dem ein Viertel der Wohnbevölkerung von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen ist, hat eine schwache demokratische Abstützung, was längerfristig destabilisierend wirken kann. Die Demokratie braucht aber auch Bürgerinnen und Bürger, die dem Staat loyal gegenüberstehen, von ihrer politischen Mitsprache Gebrauch machen und ihre Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft wahrnehmen. Und es braucht eine andere politische Kultur, in der offene und konstruktive Debatten möglich sind, wo man einander mit Respekt begegnet und dem Gegenüber zuhört, wo nicht jede und jeder seine eigenen Interessen durchsetzen will, sondern gemeinsam nach Lösungen gesucht wird – im Bestreben, einzulösen, was in der Präambel der aktuellen Bundesverfassung steht:
Das Schweizervolk und die Kantone,
in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,
im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,
im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,
im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,
gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,
geben sich folgende Verfassung: …
© Interreligiöser Think-Tank. Basel, 11. September 2023 / Stellungnahme zum Jubiläum «175 Jahre Schweizer Bundesverfassung» – als PDF.
Foto Quellenangabe: https://www.1848-parl.ch/de/bundesverfassung/kapitel/original-und-faksimile-der-bundesverfassung.php