Der Interreligiöse Think-Tank spricht sich gegen ein Verhüllungsverbot («BurkaVerbot») in der Verfassung aus, das die Verhüllung des eigenen Gesichts verbietet.
Zwar ist in der Eidgenössischen Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» nicht von der Burka die Rede. Die Initianten haben aber deutlich gemacht, dass es ihnen um die Burka geht, weshalb allgemein von einem «Burka-Verbot» geredet wird. Der Begriff «Burka» wird dabei stellvertretend für die Gesichtsverhüllung bei muslimischen Frauen verwendet. Er beinhaltet somit nicht nur die eigentliche Burka, ein Ganzkörperschleier, bei dem auch die Augenpartie bedeckt ist, sondern auch den Niqab, den Gesichtsschleier, der die Augenpartie frei lässt. Der Interreligiöse Think-Tank ist nicht für die Burka, aber entschieden gegen ein BurkaVerbot. Folgende Gründe sprechen für ein NEIN zu einem Burka-Verbot:
- Es besteht kein Handlungsbedarf
Die Initiative gibt vor, ein Problem zu lösen, das in der Schweiz so gar nicht existiert. Es gibt nur vereinzelte Frauen, die in der Schweiz Gesichtsschleier wie den Niqab tragen. Meist sind es Touristinnen aus Saudi-Arabien oder den Golfstaaten, die bei uns im Urlaub oder auf Shoppingtour sind. Sie gefährden keine öffentlichen Interessen. Die wenigen einheimischen Frauen, die Gesichtsschleier tragen, sind meist Konvertitinnen, die sich aus Überzeugung so kleiden und damit ihre Ultrareligiosität demonstrieren. Die überwältigende Mehrheit der muslimischen Männer und Frauen in der Schweiz ist gegen die Gesichtsverschleierung. Es besteht kein Grund zur Befürchtung, dass die Vollverschleierung als Kleidungsform unter den muslimischen Frauen in einem kritischen Mass zunehmen, geschweige denn sich durchsetzen wird. Ein Verbot der Gesichtsverschleierung auf Verfassungsebene ist daher völlig unangemessen. Die (demonstrative) Verhüllung mag uns zwar befremden. Man kann sich daran stossen, sie als unpassend und unästhetisch oder als Zumutung empfinden; selbst ein politisches Statement kann man darin sehen. Aber eine offene und pluralistische Gesellschaft wie unsere muss damit umgehen können, dass es vielfältige Lebens- und Glaubensformen gibt und dass diese zu respektieren sind – solange sie nicht gegen die Verfassung verstossen, niemandem Schaden zufügen oder die Freiheit anderer einschränken. - Burkaträgerinnen sind kein Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft
Bislang ist kein einziger terroristischer Anschlag in Europa von einer Burkaträgerin verübt worden. Die männlichen Terroristen tragen westliche Kleidung wie Jeans, T-Shirts oder Hemden und haben ihr Gesicht nicht verhüllt. Die Kantone verfügen zudem bereits über Vermummungsverbote, die in gefährlichen Situationen wie an Grossanlässen und Demonstrationen zum Tragen kommen. Wo der Gesichtsschleier ein Gefährdungsfaktor für sich und andere darstellt (z.B. beim Autofahren), sind bereits jetzt gesetzliche Bestimmungen in Kraft. Auch Situationen, in denen die Gesichtserkennung für die eindeutige Identifikation unabdingbar ist (z.B. auf dem Passbüro, in der Bank, vor Gericht etc.), sind bereits rechtlich geregelt. - Ein Verbot trifft alle Burkaträgerinnen, unabhängig davon, ob sie freiwillig oder gezwungenermassen ihr Gesicht verhüllen
Es ist falsch, davon auszugehen, dass alle Frauen, die ihr Gesicht verhüllen, dies unter Zwang tun. Mit dieser paternalistischen Haltung zementiert man das Klischee der muslimischen Frau als fremdbestimmtes unmündiges Wesen, das man befreien muss. Muslimische Frauen wollen weder von ihren Männern noch von selbsternannten FrauenbefreierInnen bevormundet werden. Es gibt Frauen, die freiwillig die Burka respektive den Gesichtsschleier tragen, weil es für sie Ausdruck ihrer kulturellen oder religiösen Identität ist. Sie sind überzeugt, dass es ihre religiöse Pflicht ist, oder sie betrachten es als Statement gegen den Körperkult und das sexualisierte Frauenbild westlicher Gesellschaften. Ihre Entscheidung ist zu respektieren, auch wenn wir sie nicht gutheissen und diese puristische Auslegung des Islam nicht teilen – so wie die grosse Mehrheit der Musliminnen, die weder Burka noch Niqab tragen und die Verhüllung nicht als eine religiöse Pflicht des Islam verstehen. - Burka-Verbot hilft nicht gegen Zwangsverschleierung und treibt Betroffene weiter in die Isolation
Wenn Frauen gezwungen werden, sich gänzlich zu verhüllen, hilft ihnen ein Verbot nicht. Im Gegenteil: Die Praxis zeigt, dass sich diese Frauen dann nicht mehr in den öffentlichen Raum begeben und damit noch weiter in die Isolation getrieben werden. Dass Befreiung im Fall der Vollverschleierung durch Zwang von aussen, durch ein Verbot, herbeigeführt werden soll, ist absurd. Man kann Frauen nicht mit Zwang emanzipieren, schlimmer noch: sie von einem Zwang befreien, indem man sie einem anderen Zwang unterwirft! - Burka-Verbot trifft die Falschen: die «Opfer» von Zwangsverschleierung und nicht die «Täter»
Frauen, die zur Verschleierung gezwungen werden, sollten nicht vom Gesetz bestraft und mit einer Busse belegt werden, sondern in ihrer Selbstbestimmung gefördert werden – durch Anlaufstellen, Beratung und Unterstützungsangebote. Es ist zudem widersinnig, das «Opfer» und nicht den «Täter» zu büssen. Gebüsst werden müssten die «Unterdrücker», das heisst die Männer und das familiäre Umfeld, welche die Frauen zwingen, Burka zu tragen: Allerdings: Schon heute ist es strafbar, eine Frau zum Tragen der Burka zu zwingen. Dazu braucht es kein eigenes Burka-Verbot! Wo Frauen – egal welcher Religion – von ihren Männern in ihren Selbstbestimmungsrechten verletzt werden, hat das bestehende Strafrecht durchzugreifen. - Ein Kleiderverbot in der Verfassung ist ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht von Frauen
Es ist eine Errungenschaft der säkularen, liberalen Gesellschaft, dass der Staat keine Kleidervorschriften erlässt. Frauen und Männer dürfen sich in einer offenen und freiheitlichen Gesellschaft kleiden, wie es ihnen beliebt, sofern es niemand anderem zum Nachteil gereicht. Weder Frau noch Mann darf vom Staat vorgeschrieben werden, wie sie/er sich anzuziehen hat. Anderenfalls geben wir unsere freiheitlichen Werte auf, auf die wir zu Recht stolz sind. Ein gesetzlicher Kleiderzwang für Frauen hiesse, dass sich die Schweiz auf das Niveau von totalitären Regimes und autoritären Gesellschaften wie dem Iran oder SaudiArabien begibt, die Frauen vorschreiben, wie sie sich zu kleiden haben. Frauen dürfen nicht gezwungen werden, sich zu verschleiern, aber ebensowenig dürfen sie gezwungen werden, den Schleier gegen ihren Willen abzulegen. Beim Burka-Verbot geht es nicht um die Frage, was man persönlich von der Burka oder vom Niqab hält, sondern darum, was der Staat per Gesetz vorschreiben darf. Der Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte und das Selbstbestimmungsrecht von Frauen durch ein staatliches Kleiderverbot ist entschieden abzulehnen. - Frauen dürfen weder zur Verhüllung noch zur Enthüllung ihres Körpers gezwungen werden
Der Zwang zur Verhüllung des weiblichen Körpers ist Ausdruck einer patriarchalen Ordnung. In allen patriarchalen Kulturen, auch in der christlichen, war und ist der Frauenkörper männlicher Kontrolle und häufig auch männlicher Gewalt unterworfen. Die Sexualität von Frauen wurde durch Verbote und Gebote massiv eingeschränkt und Frauen das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper verweigert. Deswegen waren in der europäischen Geschichte Enthüllung und Nacktheit auch Symbole für Emanzipation. In unserer heutigen Gesellschaft gibt es aber inzwischen so etwas wie einen Zwang zur Enthüllung des weiblichen Körpers, der die Würde von Frauen ebenso verletzt wie der Zwang zur Verhüllung. «Das eine Patriarchat verhüllt die Frauen, zieht sie an; das andere, unser Patriarchat, zieht die Frauen aus» (Christina von Braun). Wie selbstbestimmt sind westliche Frauen, wenn sie sich den unerbittlichen gesellschaftlichen Körper- und Schönheitsnormen unterwerfen, die Frauen unter einen massiven Druck setzen und immer mehr Frauen und Mädchen physisch und psychisch krank machen – also sie in ihrer körperlichen Integrität einschränken oder gar beschädigen? Die marokkanische Frauenrechtlerin Fatima Mernissi hat in diesem Zusammenhang sehr treffend von «Grösse 36 als dem Harem westlicher Frauen» gesprochen. Emanzipationsprozesse braucht es also auf beiden Seiten! - Burka-Verbot ist reine Symbolpolitik
Den Initianten des Verhüllungsverbots, dem Egerkinger-Komitee, geht es nicht um den Schutz von Frauenrechten. Sie sprechen von «Verhüllung» und meinen den Islam. Die Initiative ist ein Mobilisierungsinstrument, um das «Volk» in eine grundsätzliche Pro-ContraIslam-Debatte zu zwingen. Sie dient dazu, dass das Islam-Thema durch die politische Agenda der rechts-bürgerlichen Seite definiert bleibt: unsachlich, undifferenziert und in ihrer Wirkung radikalisierend auf alle Seiten. Wie beim Minarett-Verbot soll gezeigt werden: Der Islam gehört nicht zu unserer Gesellschaft und ist unvereinbar mit unseren Werten. Zur Umsetzung dieser Ausgrenzungspolitik wird ein Randphänomen wie die Burka zum eigentlichen Gefäss der Debatte, in das alle Bedenken, Befindlichkeiten und Kritik an den MuslimInnen und am Islam hineingefüllt werden können. Somit verschleiert die Initiative selbst, worum es ihr im Grunde geht: um die gewollte Aufspaltung unserer Gesellschaft in ein «Wir» und die
«Anderen». Damit trägt sie zur Radikalisierung in allen Lagern bei und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Fazit: Ein Burka-Verbot ist unverhältnismässig und unnötig, es hilft den betroffenen Frauen nicht und bestraft die Falschen. Es ist ein staatlicher Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und dient der «Bewirtschaftung» islamfeindlicher Gefühle. Es ist zudem kontraproduktiv, weil es zur Radikalisierung beiträgt und die Voreingenommenheit von Teilen der Bevölkerung gegenüber Muslimen und Musliminnen schürt. Aus all diesen Gründen ist ein Verhüllungsverbot in der Verfassung abzulehnen.
© Interreligiöser Think-Tank, 13. September 2016 / 8 Gründe für ein NEIN zu einem «Burka-Verbot» – als PDF.