Wo steht der interreligiöse Dialog heute? Dieser Frage widmen wir uns im neuen Jahr und veröffentlichen in loser Folge Texte von unseren Mitgliedern.
Meinem Gegenüber mit Neugier, Offenheit, Achtsamkeit und Respekt begegnen. Perspektivenwechsel einüben. Definitionsmacht abgeben und die Selbstinterpretation der Anderen respektieren. Interreligiöse Anlässe von Anfang an in einem interreligiösen Team planen: Leitlinien wie diese hat der Interreligiöse Think-Tank 2013 in seinem «Leitfaden für den interreligiösen Dialog» skizziert. Was davon hat sich bewährt und was nicht? Wo steht der interreligiöse Dialog heute? Solchen Fragen widmen wir uns im neuen Jahr. Wir veröffentlichen die Texte unserer Mitglieder in loser Folge auf unserer Website.
Rund zehn Jahre sind vergangen, seit der Interreligiöse Think-Tank den «Leitfaden für den interreligiösen Dialog» veröffentlicht hat. In dieser Dekade gab es grosse Veränderungen in der Schweizer Religionslandschaft wie auch in der gesellschaftlichen Debattenkultur. Mehrere Dynamiken wirken sich stark auf den interreligiösen Dialog in der Schweiz aus: Pluralisierung, Säkularisierung und Individualisierung, aber auch eine wachsende Institutionalisierung und Professionalisierung bei Minderheitenreligionen, insbesondere bei Muslim:innen, prägen den Dialog mit und bestimmen zunehmend auch das Verhältnis zwischen öffentlich-rechtlich anerkannten und privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften.
Trotz vieler positiver Entwicklungen und etlicher Verbesserungen in praktischen Bereichen beobachten wir zum Teil immer noch die gleichen, hinderlichen Verhaltensweisen und Haltungen in interreligiösen Dialog-Settings. Manche haben sich durch fortbestehende Asymmetrien zwischen den Teilnehmenden sogar akzentuiert. Anhaltende Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen führen zu Ermüdungserscheinungen und Rückzug, zum Wunsch nach einer Veränderung des Diskurses oder zur Verweigerung des Dialogs. Begriffe wie «Minderheitenstresssyndrom», «Diskursmüdigkeit», «Aktivist:innen-Erschöpfung», die in den letzten Jahren entstanden sind, verweisen auf entsprechende Entwicklungen. Doch wir beobachten nicht nur Frustration, Resignation und einen Rückzug aus Dialogräumen, sondern auch eine Suche nach alternativen Ausdrucksformen, die freier sind als der Dialog wie z.B. Performancekunst, utopische Ansätze.
Eine weitere Beobachtung: Die Themen des interreligiösen Dialogs haben sich fast gänzlich weg von theologischen Inhalten hin zu gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und politisch-hegemonialen Debatten bewegt. Beispiele dafür sind u.a. die Debatten rund um die Kampagne zur Eidgenössischen Abstimmung über die Initiative für ein Verhüllungsverbot im März 2021 und dessen Verankerung in der Bundesverfassung oder die Frage der rechtlichen Gleichbehandlung bzw. der öffentlich-rechtlichen Anerkennung aller Religionsgemeinschaften. Verstärkt rückt Islamfeindlichkeit als programmatischer Inhalt rechter Parteien in Europa in den Mittelpunkt und bildet einen gemeinsamen Nenner. Der Antisemitismus hat besorgniserregende Ausmasse angenommen, und auch in der Schweiz sind vermehrt antisemitische Tätlichkeiten zu beobachten. Juden- und muslimfeindliche Agitationen und Ressentiments nehmen zu. Im jüdisch-muslimischen Dialog ist der Diskurs zudem weitgehend geprägt von der gewaltsamen Eskalation in Israel/Palästina. Vertrauensbildende Massnahmen sind dringend gefragt. Gleichzeitig hat der zu Recht intensivierte Dialog zwischen den drei abrahamitischen Religionen zur Folge, dass andere Religionsgemeinschaften wie Hindus, Buddhist:innen, Sikhs oder Alewit:innen aus unserem Blickfeld verschwinden, obwohl sie genauso Teil unseres religiös-kulturellen Zusammenlebens sind – oder es zumindest sein sollten.
Ausgehend von unserem 2013 publizierten «Leitfaden für den interreligiösen Dialog» beschäftigen uns folgende Fragen:
1. Braucht es den interreligiösen Dialog noch? Wer will den interreligiösen Dialog und weshalb? Welche Widerstände gegen ihn gibt es? Worüber wird heute gesprochen und wer bestimmt das? Wer zieht sich aus dem Dialog zurück und wer nicht? Weshalb?
2. Asymmetrien im interreligiösen Dialog und in der gesellschaftlichen Realität: Gewachsenes Bewusstsein für Asymmetrien auf der einen Seite, Entstehen von neuen Asymmetrien auf der anderen Seite. Welche neuen Asymmetrien zeigen sich? Was bedeuten sie für den interreligiösen Dialog? Zu welchen Gewichtsverlagerungen führt die zunehmende Entkirchlichung? Welche Rolle spielt der Staat als Akteur im interreligiösen Dialog?
3. Innerreligiöse und interreligiöse Vielfalt: Was bedeutet die grosse Dynamik, die in allen Religionsgemeinschaften aus unterschiedlichen Gründen erfolgt, für den interreligiösen Dialog?
4. Welche Rolle spielt die Generationenfrage im interreligiösen Dialog?
5. Dialogische Haltung versus Polarisierung: Wo stehen wir heute? Welche Auswirkungen haben Ängste und Verletzungen auf den Dialog? Wo sind Allianzen wichtig, wo das Beharren auf Differenzen und Differenzierungen? Besteht eine Gefahr der Verzettelung? Gibt es gemeinsame Ziele?
6. Interreligiöse Kommunikation: Wer hat die Definitionsmacht inne? Wie verändert die Mehrheits- oder Minderheitsposition die Art, wie über die eigene religiöse Tradition gesprochen wird? Welche Annahmen und Bewertungen halten sich hartnäckig? Welche Rolle spielen die Medien dabei?
7. Bedeutung der Genderfrage im Dialog: Hat sich diese verändert? Welches Gewicht hat die Stimme und Expertise der Frauen im institutionellen interreligiösen Dialog? Können Frauen mehr oder anderes leisten als Männer? Erschöpfung der Frauen – auch im interreligiösen Dialog? Braucht es tragfähige jüdisch-christlich-muslimische Frauen-Allianzen? Auf was für Pfeilern müssten solche stehen, um den Stürmen zu trotzen?
In loser Folge publiziert der Interreligiöse Think-Tank in den nächsten Monaten auf seiner Website Texte seiner Mitglieder, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit einigen dieser Fragen befassen und aktuelle Erfahrungen und Entwicklungen reflektieren.
Ein erster Text, den wir in unserer Reihe veröffentlichen, wurde von unserer Kollegin Rifa’at Lenzin verfasst. Er behandelt die grundsätzliche Frage, ob es den interreligiösen Dialog heute, unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, noch braucht und wenn ja, weshalb.