Stellungnahme zum Krieg im «Nahen Osten»
Die unvorstellbare Gewaltorgie der Hamas, die am 7. Oktober 1200 israelische Zivilist:innen brutal ermordet und über 240 Menschen als Geiseln verschleppt hat, löste brutale Vergeltungsaktionen der israelischen Armee in Gaza aus. Seither sind bei den Angriffen über 16‘000 palästinensische Zivilist:innen umgekommen. Die Hoffnung auf einen Waffenstillstand hat sich nach einer Woche Feuerpause aktuell wieder zerschlagen. Zwar wurde ein Teil der Geiseln freigelassen und konnte zu ihren Familien zurückkehren, und im Gegenzug wurden palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen entlassen. Doch mittlerweile feuert die Hamas wieder Raketen nach Israel, und die israelische Armee führt die Kämpfe mit unveränderter Härte fort. Die humanitäre Lage der palästinensischen Zivilbevölkerung im gesamten Gazastreifen ist katastrophal und wird immer dramatischer.
Was sagen angesichts all des Leids? Wie Worte finden für die Trauer, Verzweiflung, Wut und Ohnmacht, die auch wir empfinden?
Im Mai 2021 haben wir in einer Stellungnahme zur damaligen Eskalation im «Nahen Osten» unsere tiefe Sorge ausgedrückt, dass eine Lösung des Konflikts zunehmend erschwert wird und die Ereignisse gegenseitigen Hass und Misstrauen auch hierzulande befeuern, was sich sowohl in antijüdischen und antiisraelischen wie auch in antiarabischen und antimuslimischen Ressentiments äussert und insbesondere die jüdisch-muslimischen Beziehungen empfindlich belastet. Antisemitische Äusserungen und Vorfälle und ebenso muslimfeindliche nehmen gegenwärtig in erschreckender Weise zu, und auch die jüdisch-muslimischen Beziehungen stehen vor einer Zerreissprobe.
Es wird erwartet, dass in diesem Konflikt, der so viele Facetten hat, eindeutig Stellung bezogen wird: für die eine oder für die andere Seite. Zwischentöne oder gar ein Sowohl-als-auch haben kaum mehr Platz in der derzeitigen emotional aufgeladenen Stimmung. Die Seite der Menschlichkeit, der menschlichen Anteilnahme, der Erschütterung, der Trauer und Klage über die unermesslich hohe Zahl an Opfern hat es schwer.
Die kriegerische Eskalation in Israel, Gaza und den besetzten palästinensischen Gebieten führt auch zu Spannungen und Spaltungen im interreligiösen Dialog. Auch hier ist es schwer, sich nicht in ein Entweder-oder drängen zu lassen, sich das Recht zu nehmen, auch um die Opfer der anderen Seite trauern zu dürfen, das Leiden der einen nicht gegen das Leiden der anderen aufzurechnen. Eine Grundhaltung im interreligiösen Dialog ist die Anerkennung und der Respekt vor den Anderen, ihrer Wahrnehmung und ihrer Gefühle. Dies verlangt, dass wir lernen, auch die Perspektive der Gegenseite einzunehmen, mit den Augen der Anderen sehen zu lernen – und in der aktuellen Situation, sich auch in den Schmerz und in die Trauer der Anderen einzufühlen.
Für unmittelbar Betroffene ist eine solche Haltung der Empathie kaum zu leisten. Doch von jenen, die eine Aussenperspektive einnehmen, die verschiedenen Narrative des Konfliktes kennen und sich seit Jahren um den interreligiösen Dialog bemühen, ist zu erwarten, dass sie diese Anstrengung erbringen und sich dem Druck der Parteinahme für die eine oder andere Seite widersetzen. Denn ohne diese Haltung kann ein Dialog und ein gesellschaftliches Miteinander nicht gelingen – und schon gar nicht in einer polarisierten Situation wie der gegenwärtigen.
Der Interreligiöse Think-Tank hat sich seit seiner Gründung Ende 2008 dieser dialogischen Grundhaltung verschrieben und hält auch in der aktuellen Lage an einer Haltung der Mitmenschlichkeit und Solidarität mit allen Betroffenen fest.
7. Dezember 2023