Ein Jahr nach der Abstimmung zum Verbot von Minaretten in der Schweiz hat sich für die praktische laubensausübung der MuslimInnen in diesem Land nicht viel verändert. Hingegen hat sich der Islam-Diskurs verschärft und wird zusehends politisiert. Egal wie viel gesellschaftliches Geschirr zerschlagen wird, eine Alternative zum Dialog auf Augenhöhe, der mit Verstand, Mässigung und Sachlichkeit geführt wird, gibt es nicht.
Wie der Interreligiöse Think-Tank in seinen Stellungnahmen zur Anti-Minarett-Initiative vorausgesagt hatte, fühlen sich nun auf beiden Seiten die Kräfte am äusseren Rand bestätigt und im Aufwind. Auf Seiten der «Islamkritiker» bedeutete das Abstimmungsresultat eine Bestätigung und Bestärkung des prinzipiellen Zurückweisens des Islam und damit auch der Anliegen der MuslimInnen. Ein Beleg dafür sind die aufgrund des Abstimmungsergebnisses blockierten Friedhofprojekte in Schlieren und Dietikon. Auf Seiten der Muslime fühlen sich jene bestätigt, die seit jeher diese Gesellschaft als feindselig ihnen gegenüber beklagt haben. Neue Gruppierungen und Einzelpersonen haben seit der Abstimmung die aufgeheizte und verunsichernde Atmosphäre genutzt, um undiplomatisch und teils polarisierend die Rechte der MuslimInnen einzufordern. Bemerkenswert ist, dass auch Menschen muslimischer Zugehörigkeit, welche nicht im engeren Sinn praktizierend sind und sich nicht primär als Muslime definieren, ihre Frustration über unsere Gesellschaft und den Umgang mit Minderheiten äussern.
Rechtspopulismus und anti-islamische Stimmung nehmen zu
Setzt man diese Entwicklungen in den europäischen Kontext, so stellt man fest, dass die Schweiz nicht alleine dasteht. In den Niederlanden, in Österreich und Ungarn, um nur einige Beispiele zu nennen, punkten rechtspopulistische Parteien allesamt mit anti-islamischen Parolen. In Deutschland hat die Aussage des Bundespräsidenten Christian Wulff, «Auch der Islam gehört zu Deutschland», heftigste Reaktionen ausgelöst. Und eine aktuelle Studie in Deutschland zeigt auf, dass sich Einstellungen, die bisher als rechtsextrem galten, in Richtung Mitte verschoben haben. Alles in allem sind dies keine guten Vorzeichen für einen gesellschaftlichen Dialog, der auf Sachlichkeit, Mässigung, Kompromiss- und Lösungsbereitschaft abzielt. Im Gegenteil: Das gesellschaftliche Klima ist härter geworden und Fremdenfeindlichkeit wird immer hemmungsloser propagiert – in der Schweiz jüngst durch die Initiative zur Ausschaffung krimineller Ausländer, die gegen rechtliche Gleichbehandlung und rechtsstaatliche Prinzipien verstösst.
Demokratie auf dem Prüfstand
Aber es gibt zum Glück auch andere gesellschaftliche Entwicklungen: Vielen Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern und auch manchen Kantonalen und Eidgenössischen Gremien ist erst mit der Abstimmung klar geworden, welche Auswirkungen der Ausgang auf das politische Klima in unserer Gesellschaft und auf das Wohlbefinden aller MuslimInnen in der Schweiz hat. Ihnen macht nicht primär die Anzahl der MuslimInnen in der Schweiz und deren Lebensweise Sorgen, sondern das demokratische Verständnis in unserem Land. Es wurde festgestellt, dass in der Schweizerischen Stimmbevölkerung zu wenig Bewusstsein über die Einbettung der Schweizerischen Verfassung in ein Völker- und Menschenrechtssystem vorhanden ist.
In der Abstimmung über die Ausschaffungsinitiative scheint sich Ähnliches abzuzeichnen. Das Bewusstsein, dass Initiativen im Rahmen des Rechtsstaates und den Grund- und Menschenrechten zu verbleiben haben, muss dringend geschärft werden – auch mit politischen Mechanismen, die künftig vergleichbare Abstimmungen verhindern helfen (z.B. Vorprüfung von Initiativen, Erweiterung der Kriterien für die Zulässigkeit von Initiativen etc.). Aber auch mit Kampagnen, die für die hohe Verantwortbarkeit des einzelnen Stimmbürgers / der einzelnen Stimmbürgerin in diesem Land sensibilisieren.
Erfolge im interreligiöser Dialog von den Medien kaum wahrgenommen
Was den interreligiösen Dialog anbelangt, engagieren sich – wie vor der Abstimmung – lokale und nationale Gruppierungen und Gesprächsgruppen nach dem anfänglichen Schock über das Abstimmungsresultat weiterhin für eine Kultur des Dialogs und der gegenseitigen Anerkennung. Sie zeigen auf, dass religiöse Vielfalt nicht nur Probleme schafft, sondern auch eine Bereicherung für die Gesellschaft ist. Da dies eine unspektakuläre und langfristige Arbeit ist, wird sie von den Medien und damit von einer breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Die interreligiösen AkteurInnen müssen deshalb die Wirksamkeit ihrer Arbeit noch intensiver überdenken. Denn ihre Ziele sind zwar gut und unbestritten, aber sie erreichen nur einen kleinen Kreis von Menschen. Wie kann das Interesse der Medien für die interreligiösen Aktivitäten gewonnen werden? Welche Methoden oder auch neuen Medien könnten genutzt werden für eine bessere Breitenwirkung?
Ohne Kooperation der Medien ist dies nicht zu schaffen. Gerade in diesem aufgeheizten Klima wäre es umso wichtiger, dass die Medien die unspektakulären Erfolge und konstruktiven Aspekte des Zusammenlebens thematisieren und so zu einer Beruhigung der Diskussion und einer realistischeren Wahrnehmung der tatsächlichen Verhältnisse in der breiten Öffentlichkeit beitragen. Dazu gehört auch, dass vermehrt Medienschaffende mit muslimischem Background in den Schweizer Medien angestellt werden.
Instrumentalisierung von Frauenrechten für eine islamfeindliche Politik geht weiter
Was bereits in der Abstimmungskampagne zur Anti-Minarett-Initiative zum Erfolg führte, wurde auch nach dem 28. November 2009 von rechtsbürgerlichen Kreisen weitergeführt: Die Instrumentalisierung von Frauenrechts- und Gleichstellungsfragen für eine islam- und fremdenfeindliche Politik. So wurde mit der Lancierung politischer Vorstösse zu einem BurkaVerbot in der Schweiz angeblich der Unterdrückung der muslimischen Frauen der Kampf angesagt. Männer jener Parteien, die ein rückständiges Frauenbild propagieren und seit Jahren gleichstellungspolitische Postulate in der Schweiz bekämpfen, schreiben sich die Befreiung der «armen, unterdrückten» Musliminnen auf die Fahnen.
Nicht nur in der Abstimmung über den Bau von Moscheetürmen, sondern auch in der Debatte um ein Verbot der Burka wird die «unterdrückte», verschleierte Frau zur Propagandafigur einer rechtspopulistischen und fremdenfeindlichen Politik. Die wahren politischen Motive werden hinter dem Kampf gegen Ganzkörperverschleierung und Kopftuch verschleiert, wie der Interreligiöse Think-Tank in einer Stellungnahme vom Mai 2010 gezeigt hat (http://www. interrelthinktank.ch/file_download.php?field=file_url&key1=146).
Als Zusammenschluss feministisch und (inter-)religiös engagierter Frauen wendet sich der Interreligiöse Think-Tank in aller Schärfe gegen diese Instrumentalisierung von Frauenrechten und Gleichstellungsfragen für eine islamfeindliche Politik durch konservative und rechtspopulistische Kreise. Die Fachfrauen des Interreligiösen Think-Tank arbeiten unter anderem auch deshalb an einer Studie, welche die Stellung der Frauen und ihre Einflussmöglichkeiten in Judentum, Christentum und Islam untersucht und den durch die Massenmedien verbreiteten Vorurteilen Fakten über die reale Situation von Frauen in den drei Religionsgemeinschaften gegenüberstellt.
Was ist zu tun?
Mit Studien wie diesen und öffentlichen Stellungnahmen gilt es, zur Versachlichung der gesellschaftlichen Debatten beizutragen und vor ideologisch gefärbten Debatten zu warnen, die leicht in allgemein fremdenfeindliche sowie in muslimfeindliche und judenfeindliche Rhetorik umschlagen können.
Es ist zu hoffen, dass möglichst viele Gruppierungen und Einzelpersonen, denen die Bewahrung einer rechtsstaatlichen und offenen Schweiz und der gesellschaftliche Zusammenhalt aller BewohnerInnen unseres Landes ein Anliegen ist, durch ihr Engagement und ihre Einflussnahme in politischen und gesellschaftlichen Kreisen auf pragmatische und faire Lösungen hinweisen und hinwirken.
© Interreligiöser Think-Tank. 17. November 2010/ Der Interreligiöse Think-Tank zeigt sich ein Jahr nach der Anti-Minarett-Abstimmung in einer Stellungnahme besorgt über die gesellschaftlichen Entwicklungen in unserem Land. – als PDF.