Ein Fünftel des 21. Jahrhunderts ist fast vorüber. Es waren zwei Jahrzehnte der Extreme und der Radikalisierung. Zwei Jahrzehnte, die fundamentale Verunsicherungen, grossen Widersprüche und einen Mangel an Orientierung offenbaren. Es beunruhigt, wenn junge Menschen zunehmend nach «ihrem Purpose», ihrem Sinn im Leben fragen und nicht mehr wissen, was sie in dieser Welt hält. Wenn andere ihren Sinn in der Umsetzung gewalttätiger Heilsphantasmen zu finden glauben und bestialische Ritualmorde begehen, wie unlängst wieder in Paris, Nizza und Wien. Wenn man sich immer öfter vor ethische Dilemmata gestellt sieht, die offenkundig überfordern: Darf sich (auch) ein gesunder Mensch sein Leben nehmen, wenn er das will? Wer soll und darf mit welcher Begründung eine solche Entscheidung verbieten? Sollen wir aus ökologischen Gründen aufs Kinderkriegen verzichten? Darf oder muss man sogar diesen noch nicht gezeugten Kindern ihr Lebensrecht absprechen, weil man die Welt mit ihren Entwicklungen und Zukunftsszenarien für unzumutbar hält und man es für verantwortungsvoller hält, diesen potenziellen Kindern ein Leben vorzuenthalten, das man sich brutal und qualvoll vorstellt? Soll ein junger Mensch mit der Perspektive auf Verteilkämpfe wegen Ressourcenknappheit und einer sich bedrohlich entwickelnden Erderhitzung überhaupt noch weiterleben? Wenn ja, mit welcher Lebenseinstellung? Muss in Zukunft, ob dieser düsteren Aussichten, mit kollektiven Suiziden gerechnet werden, weil es ein Recht zu sterben gibt, aber keine Pflicht zu leben? Und auch die Covid19-Pandemie stellt uns vor schwerwiegende Entscheidungen: Wer soll zu welchem Zeitpunkt was für eine medizinische Behandlung erhalten? Man fühlt sich zunehmend von solch schwierigen Fragen bedrängt, weil der Zeitgeist uns eine Positionierung abringt, die uns alle heillos überfordert. Es gibt gerade kein Werte- und Orientierungssystem, kein Weltdeutungsmodell, das einem allgemeinen Konsens unterliegt.
Wir haben aktuell, auch das ein Merkmal unserer Zeit, nicht einmal mehr einen Konsens darüber, was Fakten sind und wie mit Fakten umgegangen werden soll. Lüge und Wahrheit, Sinn und Unsinn sind nicht mehr klar auszumachen. Wie und auf welchen Grundanschauungen fussend, sollen wir dann mit all den schwierigen Fragen verfahren? Die Freiheit über sein Leben und sein Sterben zu entscheiden, erscheint paradoxerweise manchem heute beim Ausfüllen seiner Patientenverfügung nicht als Freiheit, sondern als Last und Zwang.
Religion erleb(t)en viele Menschen auch als Zwang; die Abkehr davon als Befreiung. Doch diese Freiheit hat eine Kehrseite. Religion ist ein Instrument, das Werte und Struktur in unserem Leben schafft, das einen positiven Lebenssinn als gegeben betrachtet, das dem Menschen eine Rahmen setzt, um ihn vor der eigenen Überforderung zu schützen, das Vertrauen generiert und eine Bewältigungsstrategie für den Umgang mit den Herausforderungen anbietet. Dieses Instrument haben wir weitgehend aus der Hand gegeben. Mehr noch: Das Konstruktive an Religion, z.B. soziales Engagement, Bildung, Gesundheit, Gemeinschaftssinn, individuelle Entwicklung und seelische Widerstandskraft, wurden in säkulare Bereiche transferiert. Sie erscheinen heute als staatliches Fürsorge-, Bildungs- und Gesundheitssystem, psychologische, esoterische und Sport-Angebote. Zurück bleibt ein Rumpf des Religiösen, der sich von seiner destruktivsten Seite zeigt: Religion als sektiererisches, identitäres, (all-)machthungriges Konstrukt, das Einzelne unter Umständen mit abartigen Heilsvorstellungen bedient und zu einem ultimativen «Gottesdienst» animiert, der in der Selbsttötung mit dem Ziel des maximalen menschlichen Kollateralschadens münden kann.
Diese grenzenlose Selbstüberhöhung ist eine religiöse Perversion, die auch damit erklärt werden kann, dass es kaum noch Raum für die Entwicklung einer «gesunden Religiosität» in unserer Gesellschaft gibt. Von dem Ziel, Religion gänzlich zu überwinden, muss deshalb gewarnt werden, wenn Extremismus nicht weiter gefördert werden soll. Eine gesunde Religiosität berücksichtigt alle Dimensionen des Menschseins ernsthaft, verbindet und bringt sie in ein Gleichgewicht. Die Frage ist daher nicht, ob oder ob nicht, sondern welche Art von Religiosität wir für die kommenden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts wollen.
Erschienen als Kolumne in der AZ (Solothurn, Olten, Grenchen) am 23. November 2020
© Amira Hafner-al Jabaji 2020