Wir stellen fest: Die heutige Schweiz ist eine Schweiz, die in den vergangenen Jahrzehnten stark von rechtsbürgerlich-konservativem und neoliberalem Gedankengut geprägt wurde, während Säkularisierung und Globalisierung gleichzeitig fortgeschritten sind. Der grosse Wohlstand und die politische Stabilität des Landes werden von vielen allein auf eigene Leistungen und auf «schweizerische Tugenden» wie Fleiss, Zuverlässigkeit, Genauigkeit und Integrität sowie auf das politische System der direkten Demokratie und auf die unbedingte Souveränität des Landes zurückgeführt.
Entsprechend diesem Bild der Schweiz, die sich gegen fremde Mächte wehrt, gilt die primäre Aufgabe der Nation der Verteidigung des materiellen Wohlstands und der politischen Unabhängigkeit, die mehr und mehr an der «schweizerischen» Identität des Landes gemessen wird – und dabei ausklammert, wie sehr sich der materielle Wohlstand auch der globalen Vernetzung verdankt. Diese Unabhängigkeit wird, so die vorherrschende Meinung im Land, durch Globalisierungsprozesse, zunehmende Eingebundenheit in wirtschaftliche und transnationale politische Gebilde und durch eine steigende Zuwanderung bedroht. Politik und Gesellschaft reagieren darauf mit Abschottung und kultivieren die verschiedensten Ängste: die Angst vor Wohlstandsverlust, die Angst, teilen zu müssen, die Angst vor Arbeitsstellenverlust, die Angst vor Überfremdung, die Angst vor dem Verlust der kulturellen Identität, die Angst vor Souveränitäts- und Machtverlust, die Angst vor Bedrohung der eigenen Existenz.
Diese Kultivierung von Angst und Ängstlichkeit blockiert, führt zu einem rückwärtsgewandten Reduit-Denken und lässt die Gesellschaft sich in einem ständigen Kampf wähnen, in dem es nur darum geht zu überleben, indem man den Feind besiegt, bevor man selbst besiegt wird. Dieses in der neoliberalen Wirtschaft gebräuchliche Denken hat sich auch im Alltag vieler Menschen und in weiten Teilen der Gesellschaft durchgesetzt. Nicht nur rechte Parteien, sondern auch Mitte- und Linksparteien und deren Stammwählerschaft haben solche Haltungen übernommen und versuchen bestenfalls noch Retuschen an diesem Schweiz-Bild vorzunehmen.
Das in politischen Kreisen und von führenden Persönlichkeiten und Meinungsmachern immer häufiger vorgebrachte Verständnis für die Ängste in der Bevölkerung heisst auch, diesen viel Gewicht zu geben, sie zum festen Bestandteil des politischen Diskurses zu machen und für die politische Meinungsfindung zu instrumentalisieren. Ausdruck davon sind unter anderem die mehrheitsfähig gewordenen Verschärfungen in der Migrations-, Ausländer- und Asylgesetzgebung, aber auch der verschärfte Ton in den öffentlichen Debatten und besonders in den Medien. Selbst gewisse kirchliche und christliche Kreise beginnen angesichts der Veränderungen durch eine kulturell und religiös pluralistisch gewordene Schweiz das eigene Profil wieder zu schärfen – in einer Weise, die darauf abzielt, das «christliche» Abendland vor fremden Einflüssen zu schützen.
Eine andere Erzählung von der Schweiz
Es fehlt eine andere Erzählung von der Schweiz: eine, die ein positives und zukunftsgerichtetes Bild des Landes inmitten einer globalisierten und religiös und kulturell pluralistischen Welt vermittelt. Eine Schweiz mit Visionen für ein neues «Wir». Eine Schweiz, die anknüpft an bereits bestehende alternative politische und zivilgesellschaftliche Projekte und Bewegungen und die ihre Bewohnerinnen und Bewohner mit hoffnungs- und vertrauensvollen Perspektiven in die nächsten Jahre und Jahrzehnte führt.
Entwerfen wir das Bild einer weltoffenen und innovativen anderen Schweiz, die nicht von Angst, Abschottung und Egoismus getrieben ist. Erzählen wir eine andere, eine visionäre Geschichte der Schweiz:
Die Schweiz im Jahr 2020 ist ein Land, das sich der Menschlichkeit, Gleichheit, Fairness und Nachhaltigkeit verschrieben hat. Ein Land, das – wie es stets Tradition war – nicht empfänglich für das Extreme ist, sondern bei Allem Ausgleich, Mässigung und Gerechtigkeit sucht.Ein Land, dessen Wohlstand und Lebensqualität gleichmässiger zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen und zwischen Einheimischen und Zugewanderten verteilt sind, in dem Solidarität, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft hohe Werte und Tugenden darstellen, die Vorzug vor dem materiellen Reichtum und überbordenden Individualismus geniessen. Ein Land, das durch einen Prozess von «Nationbuilding» gegangen ist und in dem die Gewissheit, zu einer in sich vielfältigen Gemeinschaft zu gehören, Ansporn für innovatives, lösungsorientiertes und inklusives Denken und Handeln ist.
Ein Land, das nicht dem Credo von Wachstum und Profitmaximierung folgt, in dem die Wirtschaft dem Wohl der Menschen dient und nicht die Menschen dem Wohl der Wirtschaft und das sich gerne dem internationalen Wettbewerb von Armutsbekämpfung, Bildungsoffensiven und Friedensarbeit nach innen und aussen stellt. Ein Land, in dem alle politisch mitbestimmen und mitgestalten können, die in diesem Land leben und arbeiten – im Wissen darum, dass Entscheidungen, die breit abgestützt sind, auch tragfähiger sind.
Dieses Land weiss: Migration findet statt. Sie ist Teil der gegenwärtigen Wirtschafts- und Lebensweise und kann positiv gestaltet und genutzt werden. Diese Schweiz ist stolz auf ihre Tradition eines vielfältigen «Wir» und einer Willensnation, die sich weniger über abstammungsmässige Zugehörigkeit als über einen gemeinsamen politischen Willen und die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts definiert. Sie ist ein Land, das nicht nur verschiedene Sprachregionen vereint und Minderheitenrechte schützt, sondern die kulturelle und religiöse Vielfalt der Bevölkerung als eine positive und bereichernde Ressource erkennt und schätzt.
In dieser Schweiz sind alle Religionsgemeinschaften rechtlich gIeichgestellt und die Gläubigen können ihre Religion öffentlich praktizieren. Moscheen, Synagogen, Kirchen, Pagoden und Tempel sind sichtbare Zeichen dafür, dass Religion als wichtiger Faktor der menschlichen und gesellschaftlichen Sinngebung und der Wertevermittlung und -erhaltung auch öffentlich anerkannt ist. In der Schule werden daher ganz selbstverständlich auch ethische, interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen erworben und Fachwissen über die verschiedenen Religionen vermittelt. An den Universitäten gibt es Lehrstühle für islamische Theologie, Judaistik und interreligiöse Studien und in den Spitälern und im Militär sind Seelsorgende aus allen Religionsgemeinschaften tätig. In dieser Schweiz werden äusserst gewinnbringend politische und gesellschaftliche Debatten geführt, in denen alle weltanschaulichen Systeme ihren konstruktiven Beitrag leisten dürfen und sollen. Aus dem religiösen Denken gespeiste Ansichten werden nicht länger abgewertet, sondern fliessen neben anderen als wichtige Impulse in die Entscheidungsfindungen von Politik und Gesellschaft ein.
Unternehmen, politische und soziale Institutionen und Medien setzen auf Gleichstellung der Geschlechter, Diversität und Chancengleichheit und schaffen so Strukturen, die allen Bewohnerinnen und Bewohnern des Landes, unabhängig von Geschlecht oder kultureller Herkunft, eine möglichst gleichberechtigte Teilnahme an den gesellschaftlichen Prozessen ermöglichen. Daraus erwachsen kreative und ganzheitliche Ideen mit breit abgestützter Akzeptanz. In dieser Schweiz sind bezahlte und unbezahlte Arbeit unter den Geschlechtern gerecht verteilt, Care-Arbeit, die Betreuung von Kindern und Erwachsenen, wird als fundamentale und unverzichtbare gesellschaftliche Leistung anerkannt, wertgeschätzt und sozial abgesichert und eine Vielfalt von Lebensentwürfen für Frauen und für Männer ist eine selbstverständliche Realität.
Anstelle des abgrenzenden «Wir und die Anderen» tritt ein «neues Wir», dessen Basis Zugehörigkeit, Interdependenz und Partizipation sind. Dieses «Wir» konstituiert sich stetig in einem offenen und fliessenden Prozess und orientiert sich an humanistischen, menschenrechtlichen, ökologischen und friedenssichernden Ideen.
Dieses neue «Wir» verfolgt eine weitsichtige, zukunftsfähige und werteorientierte Politik, die auf Verantwortung, sozialem Ausgleich, Nachhaltigkeit, Differenzverträglichkeit und Gemeinschaftssinn basiert. Das Lebensgefühl aller Generationen ist von Fürsorge und Verantwortung gegenüber allen Lebewesen und der Mitwelt getragen. Harmonische Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Umwelt haben einen hohen Stellenwert unter diesem neuen «Wir».
Religion als Ressource für ein neues «Wir»
Der Beitrag, den Religion(en) zu diesem neuen «Wir» leisten können, bedingt ein Verständnis von Religion, das nicht allein von Kultus und Tradition lebt, sondern sich vielmehr an den grossen ethischen Richtlinien wie Gerechtigkeit, Verantwortung, Mitmenschlichkeit und Sorge für die Schwachen orientiert.
Religion, wie wir sie verstehen, steht nicht im Widerspruch zur menschlichen Vernunft, sondern baut gerade darauf auf. Vernunftgeprägte Meinungsfindungen unter Einbezug religiösethischer Grundsätze lassen demokratische Entscheide zustande kommen, die von tiefen humanen Werten getragen sind und zu einem solidarischen «Wir» beitragen. Religion in diesem Sinne soll und kann in einer Schweiz der Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Für Hardliner und Fundamentalisten, religiöse wie nicht-religiöse, die ihre hegemonialen und normativen Ansprüche pauschal durchsetzen wollen und aus der Angst der Menschen politisches Kapital schlagen, wird es in dieser Schweiz keinen Zuspruch geben.
Religion, wie wir sie hier meinen, lehrt die Menschen im Innersten zu vertrauen, weil sie sich verankert wissen in einem unbedingten Horizont, so dass sie nicht Angst zu haben brauchen und nicht in Abwehrreflexe verfallen.
Sie lehrt den Wert materiellen Reichtums zu relativieren, mehr zu geben und weniger zu nehmen und dabei zu erfahren, dass weniger Konsum nicht weniger Lebensqualität heisst.
Sie lehrt die Menschen, einen Wettstreit im Guten zu veranstalten statt über Wahrheitsansprüche zu streiten.
Sie lehrt Demut, die uns als Menschen davor bewahrt, uns zu überschätzen und Zustände zu schaffen, die uns überfordern.
Sie lehrt Bescheidenheit, Fairness und Aufrichtigkeit – Tugenden, die für unser Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit im Alltag wesentlich sind und echte menschliche Gemeinschaft erst ermöglichen.
Sie lehrt die Gleichheit der Menschen und setzt sich für ein menschenwürdiges Leben aller ein. Sie lehrt, den Flüchtling, den Fremden in Obhut zu nehmen, denn wir alle könnten selbst zu Flüchtlingen werden.
Sie lehrt, dass der wahre Wert des Menschen nicht von seinem Besitzstand, seiner Herkunft, Familiengrösse oder von seinem Rang in der Gesellschaft abhängt, sondern von seiner Aufrichtigkeit, seiner Grosszügigkeit, seiner Milde und seinem ethischen Verhalten im Grossen wie im Kleinen, als Privatperson wie im Amt.
Religion in diesem Sinn trägt zu einem Leben in Würde und Gerechtigkeit, zu umfassendem Respekt und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei.