Der Kultur-Herbst in Grenchen begann mit einem hochkarätigen Anlass: GRENZENLOS –
So klingt die Welt lautete der Titel einer Veranstaltung, organisiert von Granges Mélanges und der Literarischen Gesellschaft. Die Verbindung von Musik und Lyrik aus unterschiedlichen Kulturen sollte ein Klangerlebnis werden. Die Kraft von Poesie und Melodie, von Stimme und Klang entfachte ihre ureigenste Wirkung: Am Ende gab es stehende Ovationen von einem begeisterten Publikum, das sich hatte berühren und mitreissen lassen. Die Musikstücke aus Israel, der Ukraine, Sizilien, Schweden, aus dem Kurdischen und aus der Türkei, gespielt vom jungen Grenchner Streichquartett «Quartetto Ponticello» vermittelten intensive Gefühle von fröhlich über schwermütig und besinnlich bis verspielt. Förmlich in den Bann zogen die Gedicht- und Gesangsrezitationen von Atina Tabé. Dem Solothurner Publikum ist die gebürtige Iranerin, die in Berlin aufwuchs und dort auch ihre Schauspielausbildung absolvierte, seit langem als Mitglied des Ensembles vom Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS) bekannt. Für den Anlass in Grenchen wählte Atina Tabé zusammen mit den Veranstalterinnen moderne Lyrik von Frauen türkischer, kurdischer, syrischer, tunesischer und iranischer Herkunft aus. Sie las Gedichte und sang zwei Lieder, davon ein eigenes auf Persisch, Türkisch, Arabisch und Deutsch.
Dass mit dieser Auswahl die Themen Freiheitskampf, Flucht, Sehnsucht nach Heimat und Frieden, aber auch Widerstand gegen despotische, patriarchale Systeme verbunden sein würden, war absehbar. Durch die jüngsten Ereignisse im Iran erhielt die Auswahl der Gedichte und somit der Anlass eine ungeahnte Aktualität. Wenige Tage zuvor war die 22-jährige Mahsa Amini in einem Krankenhaus in Teheran ihren Verletzungen erlegen, die ihr von der Sittenpolizei zugefügt worden waren, weil sie angeblich ihr Haar nicht genügend bedeckt hatte. Ihr gewaltsamer Tod führt im Iran seither zu Massenprotesten mit weiteren Toten und Verletzten. Die Menschen, Männer und Frauen, haben genug von der Bevormundung, der Einschüchterung und Unterdrückung durch das Regime einer korrupten, pseudo-religiösen Clique, die die Rechte von Frauen und Minderheiten mit Füssen tritt. Sie ist dafür verantwortlich, dass das Land seit Jahrzehnten in Sachen Hinrichtungen und anderer Menschenrechtsverletzungen Spitzenplätze belegt und dass das Volk schwer unter den Folgen der Sanktionen leidet. Frauen insbesondere haben die Nase voll, nicht nur im Iran, sondern überall, davon dass Männer ihnen diktieren, wie weit, wie lang, wie eng und wie bunt ihre Kleidung, wie hoch ihre Absätze, wie sichtbar ihr Körper sein darf. Es geht bei den Protesten aber nicht nur um Frauenrechte, sondern um eine Gesellschaft, die gegen einen Staat Widerstand leistet, der sie wie Leibeigene behandelt, ihnen willkürlich Gebote aufzwängt und sie ihrer Freiheitsrechte beraubt. Es spielt keine Rolle, ob solche Cliquen sich einen Turban oder rot- oder schwarzgewürfelte Tücher auf den Kopf setzen, ob sie einen Bart tragen der glattrasiert sind, sich in traditionelle Gewänder hüllen oder sich in schicke Anzüge kleiden. Es spielt keine Rolle, ob sie sich ein religiöses Mäntelchen umhängen, ein sozialistisches, ein säkulares oder nationalistisches, wenn unter dem Strich menschenverachtende Politik resultiert. Die Proteste im Iran sind vergleichbar mit jenen, die auf den Tod von Mohamed Bouazizi folgten. Der tunesische Händler starb 2011 an den Folgen seiner Selbstverbrennung, mit der er gegen die sozialen und politischen Missstände in seinem Land demonstrierte. Es folgten Massendemonstrationen, die zum Umsturz der Regimes führten.
Atina Tabé sang an jenem Abend in Grenchen die Hymne des arabischen Frühlings «Holm» (arab. Traum) der tunesischen Singer-Songwriterin Emel Mathlouthi. Die Hoffnung und die Vision, die darin zum Tragen kommen, gehören auch dem iranischen Volk.
Erschienen in der AZ Mittelland am 5. Oktober 2022