Kolumne von Amira Hafner-Al Jabaji, erschienen in der Solothurner Zeitung, im Oltner Tagblatt und im Grenchner Tagblatt am 7. Juli 2023.
Am Ende der Ausstellung stehe ich mit offenem Mund, ungläubig staunend vor dem grossformatigen Bild. Ich traue meinen Augen nicht. Kann das wirklich sein? Ich sehe das Abbild einer mir durch und durch vertrauten Umgebung. Markierte Parkfelder von einer penibel gepflegten Blumenrabatte umrandet, dahinter ein asphaltierter Weg, ein freies Feld, an dessen Ende sich einige Fabrik- und Gewerbegebäude befinden, darüber der sich dunkel abzeichnende Jurasüdfuss: Grenchenberg – Wandfluh – Bettlachstock – Hasenmatt – Weissenstein. Das schmale Fenster im Bild ermöglicht einen überraschend weiten Blick. Ich kenne das Fenster, ich kenne den Blick und ich fühle plötzlich flauschigen purpurroten Teppich unter meinen Füssen. Das Ganze fühlt sich einen Augenblick komplett surreal an, denn ich stehe gerade mit Schuhen auf kaltem Betonboden in einem fensterlosen Ausstellungsraum im Kunsthaus Zürich.
In Re-Orientations habe ich zwei Stunden lang verschiedenste Exponate bestaunt und über das Verhältnis, die Verwobenheit, um nicht zu sagen die Verstrickungen von europäischen und islamischen/orientalischen Künsten und Künstler:innen gelernt. Eine lange und höchst ambivalente Geschichte zeugt von verschiedenen Einflüssen islamischer Kulturen auf das europäische Kunstschaffen ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Zeit geht mit kolonialen Herrschaftsverhältnissen einher, schaffte und festigte Stereotype, die bis heute nachwirken. Die Ausstellung nimmt das kritisch auf und zwingt den/die Besucher:in dazu, immer wieder neue Blickwinkel einzunehmen, sich neu zu orientieren, neu zu positionieren und «den Orient» anders zu denken als aus der eurozentrischen Sicht: weder abwertend, feindselig noch durch die romantisierende «islamophile» Brille, die ein verzerrtes, schwülstiges und von männlichen Haremsphantasien beflügeltes Bild produziert. Rigider Puritanismus auf der einen und zügellose Sexualität auf der anderen Seite bilden fatalerweise noch heute das Gegensatzpaar in Debatten um «Männer aus dem islamischen Kulturraum».
Doch Kunst will nicht einfach Realität abbilden. Sie ästhetisiert, spielt mit Symbolik, abstrahiert, arrangiert Formen und Farben und will Aussagen machen, die Betrachter verwirren oder sie auf einen Standpunkt setzen; auf Bildern, mit Gefässen, auf Textilien und Möbeln. Ausgestellt sind auch Werke weltberühmter Künstler wie Wassily Kandinsky, Paul Klee, Henri Matisse oder Osman Hamdi Bey. Ihre Werke hängen in namhaften Museen auf der ganzen Welt. Am Ende der Ausstellung scheint ein gefestigter Blick auf «die europäische Kunst» und «die islamische Kultur» nicht mehr angemessen, weil die Perspektive der Betrachtung ständig ändert und sich die Grenzen zwischen dem einen und andern aufzulösen beginnen
Die Fotoserie am Schluss ist für mich ein unerwarteter Höhepunkt und eine Offenbarung. Es sind Innenblicke aus Moscheen hinaus in die Schweizer Umgebung. Der Fotograf und Künstler Marwan Bassiouni hat damit nicht einfach einen Perspektivenwechsel vollzogen; das wäre die Erzählung aus der nicht-muslimischen Perspektive. Er bildet vielmehr den muslimischen Moscheeinnenblick auf die Umgebung ab und macht ihn öffentlich. Was er damit schafft, ist nichts weniger als Beheimatung und Repräsentanz. Denn das Innen und das Aussen stehen nun unweigerlich in Beziehung zueinander. Bassiouni hat (u.a.) Grenchens Moschee der Albanisch-islamischen Gemeinschaft zum Kunstobjekt erhoben und in die heiligen Hallen des Zürcher Kunsthauses katapultiert. Das sollte besonders, aber nicht nur in Grenchen zur Kenntnis genommen werden. Die Ausstellung Re-Orientations läuft noch bis zum 16. Juli.
Erschienen als Kolumne in der Solothurner Zeitung, im Oltner Tagblatt und im Grenchner Tagblatt am 7. Juli 2023.
© Amira Hafner-Al Jabaji 2023.
www.interrelthinktank.ch – Text als PDF