Ich sitze im Speisewagen des Intercityzuges nach Zürich. Der eben bestellte Cappuccino steht schon dampfend auf dem kleinen Tisch. Ich gehe konzentriert meine Moderationstexte durch. Murmelnd und mit Einbezug von Gesicht und Händen. In gut zwei Stunden beginnt die Aufzeichnung, da müssen die Texte sitzen und mit Leichtigkeit über die Lippen kommen.
Erst zwei Stationen später, der Zug steht schief, wie immer an diesem Ort, weil der Bahnhof in einer Kurve liegt, holt mich eine Stimme aus meiner Versenkung. «Ja, bitte. Es ist frei.» Mit einer Handbewegung weise ich auf den leeren Stuhl gegenüber. Die ältere Frau nimmt Platz. Es entsteht ein netter, kurzer Wortwechsel über den «schrägen Ort», Reisen im Speisewagen und ihre Vorfreude auf diesen Tag, den sie sich gönnt. Ich wende mich wieder meinen Texten zu. Sie beobachtet mich und fragt, was ich denn da am Einstudieren sei. Ich erkläre. Beim Stichwort «Religion» wird sie ganz aufgeregt. Sie habe heute doch tatsächlich verschlafen und deswegen den über alles geliebten Rorate-Gottesdienst verpasst, den sie seit Jahrzenten immer besuche. Es sei ihr ganz und gar unverständlich. Sie kommt ins Schwärmen über die einzigartige Stimmung in der Kirche. Alles Licht im Raum würde nur durch die vielen Kerzen erzeugt. Deshalb sei das so speziell. Ich bin berührt über die Inbrunst, mit der sie mir, einer Fremden, das alles berichtet. Nun sei sie unterwegs an den Weihnachtsmarkt in Zürich, dann zur Tochter. Die habe gerade ihr erstes Kind geboren. Für sie sei es aber schon das neunte Enkelkind. Ich mache grosse Augen. Sie selbst habe fünf Kinder innert sechs Jahren geboren. Fünf Kinder in Sechs Jahren! Ich weiss aus eigener Erfahrung wie intensiv und ermüdend Mutterschaft mit mehreren Kindern, die nah aufeinander
geboren sind, ist. Diese Frau hatte fünf Kinder und hütet nun regelmässig neun Enkel. Und das offensichtlich gerne und mit Hingabe. Es mache ihr grosse Freude, und es sei ein unglaubliches Glück, alles gesunde Kinder und Enkelkinder zu haben. Besonders stolz sei sie darauf, dass aus jedem ihrer Kinder etwas geworden sei. Sowieso sei die ganze Familie immer vom Glück begünstigt gewesen. Plötzlich bricht ihr Redefluss ab und sie wird ernst. Dieses Jahr habe das Schicksal auf traurige Weise zugeschlagen. Eine der Töchter sei zur Witwe geworden, mit gerade mal vierunddreissig Jahren. Drei kleine Kinder sind nun Halbwaisen. Innert weniger Monate sei der Mann an Krebs gestorben. Sie erzählt und erzählt und mir bricht es fast das Herz. In solchen Momenten komme man dann mit «Dem da oben» (sie macht eine entsprechende Geste mit dem Zeigefinger) schon ins Hadern. Andererseits, so sagt sie: «Wir fragen ja auch nicht nach dem Warum, wenn uns das Schicksal gut gesinnt ist.» Der Zug fährt in Zürich ein. Meine Unterlagen hatte ich längst weggelegt. Wenn ihr so viel Schwieriges so leicht über die Lippen kommt, wird’s schon klappen mit den Moderationstexten.
Erschienen als Kolumne in der AZ (Solothurn, Olten, Grenchen) am 19. Dezember 2018
© Amira Hafner-Al Jabaji 2018