10 Jahre «Leitfaden für den interreligiösen Dialog»: Folge 1
Aus der Pluralisierung der Gesellschaft entstanden, scheint der interreligiöse Dialog mit dem Rückgang der Religiosität in der Bevölkerung auf den ersten Blick an Relevanz verloren zu haben. Doch die Diversität der Gesellschaft hat weiter zugenommen, weshalb interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen unabdingbar geworden sind. Die Veränderung der Gesellschaft konfrontiert den interreligiösen Dialog mit neuen, noch offenen Fragen, stellt jedoch die Idee des Dialogs nicht infrage.
Interreligiöse Dialoge im Sinn von Gesprächen zwischen den Religionen gab es schon im Mittelalter. Dabei handelte es sich jedoch meistens um interreligiöse Kontroversen, die vor allem von wechselseitiger Polemik bestimmt waren. Teilweise gab es sogar Zwangsdisputationen, die von den Machthabern verordnet wurden und bei denen von vornherein feststand, wer Recht hat und wer nicht, wie dies bei einigen christlich-jüdischen Disputationen im Mittelalter der Fall war. Aber auch bei den wirklich offenen Kontroversen bestand das primäre Ziel darin, den religiös anderen in der Disputation zu besiegen.
Der interreligiöse Dialog in der heutigen Form ist noch jung
Demgegenüber ist das Konzept des interreligiösen Dialogs, wie wir ihn heute verstehen, vergleichsweise neu. Vom interreligiösen Dialog begannen wir in Europa vor etwas über dreissig Jahren zu sprechen. Damals rückte die Erkenntnis ins Blickfeld, dass es im Europa des 20. Jahrhunderts nicht nur Reformierte und Katholik:innen sowie eine kleine jüdische Minderheit gab, sondern auch orthodoxe Christ:innen, Muslim:innen, Hindus, Buddhist:innen und andere mehr.
Schub erhielt der «Interreligiöse Dialog» in den 1990er Jahren nicht zuletzt durch das Projekt «Weltethos» des Schweizer Theologen Hans Küng. Er postulierte darin, dass es «kein Zusammenleben auf diesem Globus ohne ein globales Ethos gibt, keinen Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen und keinen Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen». Auch «keinen Dialog zwischen den Religionen und Kulturen ohne Grundlagenforschung und kein globales Ethos ohne Bewusstseinswandel von Religiösen und Nicht-Religiösen».[1]
Vielerorts entstanden daraufhin interreligiöse Foren. In der Schweiz zum Beispiel die Interreligiöse Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz IRAS COTIS. Ziel dieser Foren war es, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen und den immigrierten Religionsgemeinschaften bei der Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse zu helfen. Geprägt war dieser interreligiöse Dialog von viel Goodwill und einer grossen Asymmetrie zwischen Etablierten und Neuankömmlingen, zwischen Gebenden und Nehmenden.
Interreligiöser Dialog früher und heute
In seinen Anfängen diente der interreligiöse Dialog in der Schweiz in erster Linie der Begegnung und dem Kennenlernen. Angehörige der Mehrheitsgemeinschaft wollten damit Ängste und Vorurteile gegenüber «den Fremden» abbauen. Die Angehörigen der Minderheitsgemeinschaften, die daran teilnahmen, erhofften sich Akzeptanz und Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse, beispielsweise auf der Suche nach Räumlichkeiten für ihre Gottesdienste. Es ging also nicht um einen interreligiösen Dialog im eigentlichen, theologischen Sinn. Dazu wären die Exponent:innen auf nicht-christlicher Seite auch gar nicht in der Lage gewesen, handelte es sich bei ihnen doch mehrheitlich um «Gastarbeiter» und Flüchtlinge. Theolog:innen hatte es da keine darunter.
Ist das gelungen? Diese Minderheitsgemeinschaften stehen heute ganz woanders. Die Kinder und Kindeskinder der «Gastarbeiter» – und vieler Flüchtlinge sind längst Schweizer:innen geworden. Sie brauchen für ihren religiösen Alltag keine Unterstützung mehr, auch wenn es für viele immer noch schwierig ist, passende Räumlichkeiten zu finden. Viele junge Leute haben deshalb kein Interesse, sich im interreligiösen Bereich zu engagieren. Wenn sie religiös aktiv sind, bringen sie ihr Engagement und ihre Kompetenzen lieber in ihren eigenen Gemeinschaften und auf ihre Weise ein.
Bedeutungsverlust der institutionalisierten Religionen
Gefahr droht dem interreligiösen Dialog dadurch, dass die etablierten, institutionalisierten Religionsgemeinschaften zusehends an Mitgliedern verlieren. Mit einem Anteil von 34 Prozent hat die Bevölkerung ohne Religionszugehörigkeit in der Schweiz 2022 erstmals die Katholik:innen (32 Prozent) überholt, wie das Bundesamt für Statistik (BfS) basierend auf Zahlen von 2022 im Januar 2024 mitteilte.[2] Mit 20,5 Prozent bilden die Evangelisch-Reformierten 2022 die drittgrösste Gruppe. Während die Zahl der Mitglieder der beiden Landeskirchen in den vergangenen Jahren stetig kleiner geworden ist, verzeichnete die Gruppe ohne Religionszugehörigkeit seit 2010 eine Zunahme von über 13 Prozentpunkten. Der Bevölkerungsanteil ohne Religionszugehörigkeit variiert allerdings je nach Kanton stark und ist besonders in den Städten gross: So ist laut BFS die Bevölkerung ohne Religionszugehörigkeit in ländlichen Gebieten der Schweiz mit 28 Prozent weniger stark vertreten als im städtischen Raum, wo sie 36 Prozent ausmacht. Insgesamt gehören mehr Männer keiner Religion an als Frauen. Personen ohne Religionszugehörigkeit sind durchschnittlich eher jung, unter den 25- bis 34-Jährigen lag ihr Anteil im Jahr 2022 bei 42 Prozent. Ein Grund dafür ist, dass die religiöse Sozialisierung nicht mehr funktioniert: Jede neue Generation ist weiter vom Glauben ihrer Eltern entfernt als die bisherige. Ob sich diese Entwicklung aufhalten lässt, ist fraglich
Während die Anteile der römisch-katholischen und der evangelisch-reformierten Landeskirchen abgenommen haben, hat im Gegensatz dazu der Anteil der muslimischen und aus dem Islam hervorgegangenen Glaubensgemeinschaften leicht zugenommen und betrug 2022 5,9 Prozent. Der Bevölkerungsanteil der jüdischen Glaubensgemeinschaften beträgt 0,2 Prozent und ist auf niedrigem Niveau seit Längerem unverändert.[3] Die buddhistischen und Hindugemeinschaften sind, vor allem durch neu angekommene Flüchtlinge, grösser geworden.
Der Hauptbeweggrund für das Aufgeben der Religionszugehörigkeit war laut dem BfS, dass Menschen den Glauben verloren oder gar nie einen Glauben gehabt haben. Ein knappes weiteres Drittel war mit den Stellungnahmen der jeweiligen Religionsgemeinschaft nicht einverstanden. Knapp ein Drittel der Personen ohne Religionszugehörigkeit hält sich derweil «eher oder sicher» für spirituell. So spielen Religion oder Spiritualität in bestimmten Situationen auch für Personen ohne Religionszugehörigkeit eine eher oder sehr wichtige Rolle, so zum Beispiel in schwierigen Momenten des Lebens oder im Falle einer Krankheit. Rund 30 Prozent der Menschen ohne Religionszugehörigkeit glauben zwar nicht an einen oder mehrere Gottheiten, aber an eine höhere Macht.[4]
Als Bestandteil von Kultur ist «Religion» nach wie vor relevant
Allerdings sind diese Zahlen insofern etwas irreführend, als man aus diesem Aderlass bei den institutionellen Religionsgemeinschaften nicht automatisch darauf schliessen sollte, dass das christliche Selbstverständnis am Verschwinden sei. So betrachtet ein Grossteil der Bevölkerung die Schweiz nach wie vor als christliches Land. Und vor allem konservative Politiker:innen pochen auf die christlichen Grundwerte und die christliche Leitkultur der Schweiz. Auffallend ist, dass sie immer dann den christlichen Hintergrund der Schweiz ins Feld führen, wenn sie das Abendland durch «fremde», zugewanderte Religionen, die ihrer Meinung nach nicht zu uns gehören, bedroht sehen. Dies gilt insbesondere in Bezug auf den Islam. Auch wenn der christliche Glaube für die Bevölkerung an Bedeutung verloren hat, wird die christliche Kulturtradition der Schweiz häufig selbst von jenen verteidigt, die sich nicht mehr als Christ:innen empfinden. So wird zum Beispiel der in den letzten Jahren von den Freidenkern eingebrachte Vorschlag, christliche Feiertage abzuschaffen, von vielen Schweizer:innen abgelehnt. Obwohl die meisten die religiöse Bedeutung von Ostern, Pfingsten oder Auffahrt nicht mehr kennen, bleiben die christlichen Feiertage als gemeinsamer kultureller Bezugspunkt im gesellschaftlichen Leben für viele Menschen weiterhin wichtig. Als Bestandteil von Kultur ist «Religion» also nach wie vor gesellschaftlich relevant, auch wenn die Entkirchlichung und Glaubensferne weit fortgeschritten sind.
Rückgang der Religiosität: religiöser Analphabetismus
Noch gravierender als es der Rückgang der Kirchenbesuche vermuten lässt, ist der Rückgang der Religiosität und des religiösen Wissens. Auch unter bekennenden Christ:innen schwindet der Glaube an wesentliche Elemente der christlichen Lehre. An die Dreifaltigkeit, die Auferstehung der Toten oder daran, dass Gott die Welt geschaffen hat, glaubt nur noch eine Minderheit.
Wie tief der Stellenwert der Religion aktuell für die Schweizer Bevölkerung ist, zeigt die SRG-Umfrage «Wie geht’s, Schweiz?», die im Frühjahr 2024 zum zweiten Mal durchgeführt wurde. Erstmals sind darin Fragen zum Thema Glauben gestellt worden. Weniger als ein Drittel der Befragten gab an, dass sie stark an Gott glauben. Mehr als die Hälfte sagte, sie glaubten überhaupt nicht an Gott. Wenn man hingegen fragt, wie es um den Glauben an eine höhere Macht steht, dann fällt die Zustimmung höher aus. Knapp 40 Prozent sagen, sie glaubten stark daran. Etwa gleich viele sagen, sie glaubten gar nicht daran. Auch bei der Frage nach dem Glauben an Spiritualität ist die Zustimmung der Befragten höher als beim Glauben an Gott. Das deutet darauf hin, dass die Bevölkerung offener ist für weniger traditionelle oder institutionelle Formen des Glaubens.
Die geringe Bedeutung, welche die Bevölkerung der Religion beimisst, wird auch durch die Tatsache bestätigt, dass nur ein Viertel der Befragten die Zugehörigkeit zu einer nationalen Konfession als mehr oder weniger wichtig für die nationale Identität der Schweiz erachtet. Und vier Fünftel der Befragten widersprechen eher oder ganz der Aussage, dass es der Schweiz besser gehen würde, wenn die Menschen religiöser wären.[5]
Für den interreligiösen Dialog ist diese Religionsferne insofern ein Problem, dass mit dem fehlenden religiösen Wissen auch zunehmend die Fähigkeit verlorengeht, im religiösen Bereich überhaupt kommunizieren zu können. Fachleute sprechen manchmal von einem religiösen Analphabetismus. Gerade in Schulen wird mehr und mehr die Erfahrung gemacht, dass die Schüler:innen kaum mehr über religiöses Wissen verfügen. Was diese aktuelle gesellschaftliche Entwicklung für den interreligiösen Dialog in seiner jetzigen Form bedeutet, müsste in einem eigenen Text näher untersucht werden.
Interreligiöser Dialog als Radikalisierungsprävention?
Wenn man Antworten auf die Frage sucht, ob es den interreligiösen Dialog heute noch braucht, muss man zunächst auch in Erfahrung bringen, wer was für Erwartungen an den interreligiösen Dialog stellt. Als Beispiel sei hier die Erwähnung im «Nationalen Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus» des Sicherheitsverbunds Schweiz vom 4. Dezember 2017 genannt. Dort heisst es unter Massnahme 12 zum interreligiösen Dialog zwischen anerkannten Religionsgemeinschaften und religiös tätigen Organisationen: «Der interreligiöse Dialog zwischen den verschiedenen anerkannten Religionsgemeinschaften und religiös tätigen Organisationen findet regelmässig statt im Bestreben, den Religionsfrieden zu wahren sowie ein gegenseitiges Verständnis für unterschiedliche Anliegen und Herausforderungen zu schaffen. Die Organisation dieses Austausches kann von Seiten der kantonalen und kommunalen Behörden unterstützt werden.» In verschiedenen Kantonen wurde der interreligiöse Dialog als Instrument für ein friedliches Zusammenleben und als Radikalisierungsprävention institutionalisiert.
Etliche im interreligiösen Dialog Engagierte freuten sich, weil sie ihre Bemühungen um Verständigung zwischen den Religionsgemeinschaften endlich auch vom Staat zur Kenntnis genommen und honoriert sahen. Bei der Euphorie darüber ging allerdings etwas vergessen: Die Zielsetzung im Fall des Nationalen Aktionsplans war, dass «praxistaugliche Voraussetzungen für die Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus in all seinen Formen und im Einklang mit den Grund- und Menschenrechten geschaffen werden». Interreligiöser Dialog als Radikalisierungsprävention also, die vor allem auf den Islam und die Muslim:innen zielte, die weitaus grösste religiöse Minderheit in der Schweiz. Das heisst: Auch der interreligiöse Dialog ist interessengeleitet und findet nicht im luftleeren und auch nicht im herrschaftsfreien Raum statt.
Was hat der interreligiöse Dialog bisher gebracht?
Bei seinem Bestreben, Ängste und Vorurteile abzubauen, ist der interreligiöse Dialog, was den Islam und die Muslim:innen angeht, weitgehend gescheitert. Die Wirkungslosigkeit zeigte sich bei der Anti-Minarett- und bei der Burka-Abstimmung überdeutlich, zur grossen Frustration aller an diesem Dialog Beteiligten. Die Kirchen hatten im Fall der Anti-Minarett-Abstimmung klar gegen die Initiative Position bezogen und mussten nun erkennen, dass ihnen ihre Basis nicht folgte. Dies hatte zur Folge, dass sie sich bei weiteren Islam-bezogenen Abstimmungen nicht mehr exponierten.
Die Muslim:innen sind heute viel besser organisiert. Im Kanton Zürich beispielsweise gibt es eine muslimische Spitalseelsorge und in der Schweizer Armee neben christlichen auch jüdische und muslimische Armeeseelsorger. Das hat jedoch weniger mit dem interreligiösen Dialog als vielmehr mit der Einsicht staatlicher Stellen zu tun, dass die Muslim:innen als grösste Minderheit besser eingebunden werden müssen und die einseitige Privilegierung der öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften nicht länger in dieser Form aufrechterhalten werden kann. Es wäre wünschenswert, dass in anderen Kantonen diese Einbindung und gefestigte Beziehungen mit beidseitigen Rechten und Pflichten zwischen Staat und (muslimischen) Religionsgemeinschaften ebenfalls angestrebt würden. In verschiedenen Kantonen sind solche Entwicklungen, wenn auch zaghaft, in Gang.
Etwas anders sieht es beim jüdisch-christlichen Dialog aus. Dieser erfolgte auf dem Hintergrund der Vernichtung eines Grossteils des europäischen Judentums zwischen 1936 bis 1945 und den daraus resultierenden Schuldgefühlen bei vielen Christ:innen. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1962 begann die Katholische Kirche erstmals von einer «Geschwisterlichkeit» zwischen Juden/Jüdinnen und Christ:innen zu sprechen. In der Schweiz intensivierte sich dieser Dialog vor allem in den 1980er Jahren durch die Debatte um die Nachrichtenlosen Vermögen. Davon profitierten Dialoginitiativen, die sich um die jüdisch-christliche Verständigung bemühten, wie zum Beispiel jüdisch-christliche Arbeitskreise, das Zürcher Lehrhaus oder die Christlich-jüdische Arbeitsgemeinschaft beider Basel CJA. Ihnen gelang es, ein interessiertes Publikum für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Christ:innen und Juden/Jüdinnen zu sensibilisieren. An einem stets vorhandenen «Bodensatz» von Antisemitismus in der Bevölkerung vermochten sie allerdings auch nichts zu ändern.
Wozu also interreligiöser Dialog?
Die anhaltende Notwendigkeit zum interreligiösen Dialog ergibt sich aus der gesellschaftlichen Realität. Gesellschaften in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts sind nicht (mehr) monokulturell, sondern multiethnisch, multikulturell und multireligiös. Das gilt insbesondere auch für Europa. Und wenn die deutsche Bundeskanzlerin seinerzeit konstatierte, «Multikulti» sei gescheitert, gestand sie damit in Wirklichkeit nur das Versagen von Politik und Gesellschaft im Umgang mit dieser Realität ein – abschaffen lässt sich diese so leicht nicht mehr.
In Vielfalt zusammenzuleben kann zwar sehr bereichernd sein, ist aber gleichzeitig anstrengend und konfliktträchtig. Wenn wir als Gesellschaft zukunfts- und überlebensfähig bleiben wollen, sind interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen unabdingbar. «Managing diversity» heisst das Stichwort. Das gilt für viele Bereiche – auch den religiösen. Eine Grundvoraussetzung für den interreligiösen Dialog ist die prinzipielle Anerkennung der Gleichwertigkeit anderer Kulturen und Religionen und deren Respektierung nicht nur innerhalb der Grenzen der eigenen Wertvorstellungen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Differenz nicht zwingend überwinden zu wollen, sondern auszuhalten.[6]
Dialog als gemeinsamer, offener Verstehens- und Erkenntnisprozess
So verstanden meint Dialog eine sprachliche Kommunikation, in der ich den anderen nicht überreden und Recht behalten will. Es geht nicht darum, den eigenen Standpunkt durchzusetzen, sondern um einen gemeinsamen, offenen Verstehens- und Erkenntnisprozess.
Ein wesentliches Merkmal der dialogischen Haltung ist die Lern- und Veränderungsbereitschaft: Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit begegnen sich nicht als Wissende, sondern als Lernende – mit der Bereitschaft, sich in der Begegnung bereichern und verändern zu lassen.[7] Der offene, freie Dialog enthält allerdings immer das Risiko von unerwarteten Veränderungen und der eigenen Wandlung – und damit des Verlustes von vermeintlichen Sicherheiten. In einem so verstandenen Dialog geht es darum, sich kennen zu lernen, mehr voneinander zu wissen, Gemeinsamkeiten zu entdecken und das Trennende zwar zu sehen und zu respektieren, aber keinen radikalen Gegensatz zwischen dem Eigenen und dem Anderen zu konstruieren.[8]
Der interreligiöse Dialog als theologischer Dialog
Der interreligiöse Dialog als theologischer Dialog muss und wird weitergehen. Innerhalb der verschiedenen Religionsgemeinschaften werden heute Ansätze einer pluralistischen Religionstheologie formuliert, die aber im Moment noch ein Schattendasein fristen und weder von den religiösen Eliten noch von der Basis getragen werden.
Es geht um die Entwicklung von Theologien, die den religiösen Pluralismus nicht bloss als empirische Tatsache, sondern als Wert an sich anerkennen und ihn religiös, aus der Sicht der jeweiligen Tradition, zu verstehen versuchen. Die Frage, ob man so weit gehen will, den interreligiösen Dialog als wesentlichen Vollzug des eigenen Glaubens und zeitgenössischer religiöser Existenz unter den Bedingungen des Pluralismus begreifen zu lernen – als Ausdruck einer offenen, kosmopolitischen Religiosität, die für eine humane Zukunft notwendig ist, kann an dieser Stelle offenleiben.
Ohne gegenseitigen Respekt und die Bereitschaft, vom anderen zu lernen, wird es aber nicht gelingen, einen modus vivendi zu finden, der von allen Mitgliedern der Gesellschaft und nicht nur von einzelnen Gruppen getragen wird. In diesem Sinn kann der interreligiöse Dialog durchaus einen wichtigen Beitrag zum multireligiösen und multikulturellen Zusammenleben leisten.
Interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen sind besonders heute unabdingbar
Der interreligiöse Dialog wird auch in Zukunft wichtig sein. Die Thesen von Hans Küng haben nichts von ihrer Aussagekraft verloren. Denn beim eurozentrischen Blick auf die Entwicklung der religiösen Landschaft in Europa geht schnell die Tatsache vergessen, dass bei immer noch über 80 Prozent der Weltbevölkerung die Religion eine wichtige Rolle spielt.
Gerade in einer zunehmend instabilen Weltordnung sind interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen unabdingbar. Religiöse Vielfalt ist laut dem Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann Stiftung nur für 29 Prozent der Menschen in Deutschland eine Bereicherung. 34 Prozent der Befragten halten die Pluralität der Bekenntnisse für eine Bedrohung. Die restlichen 37 Prozent antworteten mit «weder noch».
Dass Religionspluralismus als Bedrohung empfunden wird, bekundeten 38 Prozent der Menschen ohne Religionszugehörigkeit und 34 Prozent der Mitglieder christlicher Konfessionen. Am wenigsten verbreitet ist die Angst davor mit 20 Prozent unter Muslim:innen, am stärksten unter Hindus (61 Prozent). Auch die Offenheit gegenüber Andersgläubigen hat in den letzten zehn Jahren abgenommen.[9]
Offene Fragen für den interreligiösen Dialog heute
Eine grosse Herausforderung bleibt die Frage, wie ein Dialog zwischen «Religiösen» und «Nichtreligiösen» angesichts des weitverbreiteten religiösen Analphabetismus gestaltet werden kann.
Diejenigen, die sich am interreligiösen Dialog beteiligen, werden sich klarer darüber werden müssen, von welchen Grundannahmen sie ausgehen, von welchem Religionsbegriff beispielsweise und was mit dem Dialog erreicht werden soll.
Und last but not least wird es vermehrt darum gehen, sich über das interreligiöse Handeln zu verständigen. Was bedeutet es beispielsweise, wenn es plötzlich muslimische oder auch Vertreter:innen anderer Religionen in den bisher ausschliesslich christlichen Spitalseelsorgeteams gibt? Welchen Einfluss hat das auf die Zusammenarbeit und was bedeutet es für das eigene Selbstverständnis? Ist es ein Nebeneinander oder ein Miteinander? Und sind die etablierten Religionsgemeinschaften bereit, auf einige ihrer Privilegien zu verzichten zugunsten der nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften?
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[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Weltethos#Grund%C3%BCberzeugungen
[2] https://www.bfs.admin.ch/asset/de/30166136
[4] https://www.bfs.admin.ch/asset/de/30166136
[6] Siehe dazu: Leitfaden für den interreligiösen Dialog, 5. Aufl., Basel 2015, S. 29-31.
[7] Siehe dazu: Leitfaden für den interreligiösen Dialog, S. 38-40.
[8] Siehe dazu: Leitfaden für den interreligiösen Dialog, S. 51-54.