Das berühmteste Mädchen Schwedens ist zweifelsohne Pippi Langstrumpf. Die Göre mit den lustigen roten Zöpfen ist eine Stimmungskanone, die im Nu Langeweile wegzaubert und kreative Lösungen für Probleme findet, die sie selbst ersinnt. Pippi ist aufmüpfig, akzeptiert keine Regeln der Erwachsenen, ist unstrukturiert, unordentlich, kann nicht stillsitzen, stellt sich andauernd in den Vordergrund, ist aufbrausend und hat eine erhebliche Rechenschwäche sowie eine fürs Fluchen. Wissenschaftler sind sich heute ziemlich einig. Pippi hat ADHS.
Nun droht ein anderes schwedisches Mädchen mit lustigen Zöpfen und anderer Diagnose Pippi den Rang abzulaufen. Keine erfundene Kinderbuchfigur, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Die fünfzehnjährige Greta Thunberg hat viele Gemeinsamkeiten mit Pippi.
Auch sie ist herausfordernd, hält die Erwachsenen für unfähig, liest ihnen gar die Leviten und hat dabei, ganz Pippi-gleich, keine Scheu vor hohen Amts- und Würdenträgern. Greta Thunberg schwänzt hochoffiziell jeden Freitag die Schule um für ein Umdenken und «Umhandeln» in Sachen Klimapolitik zu demonstrieren. Vor wenigen Wochen hielt sie eine Rede an der Klimakonferenz in Kattowitz. Eigentlich wars eine Standpauke, eine regelrechte Anklage. Den hochrangigen Politikern hält sie vor, zu unreif zu sein, um die Wahrheit zu sagen. Sie würden bloss von grünem, ewigem Wirtschaftswachstum sprechen aus Angst davor unbeliebt zu werden, mit denselben Ideen weiterzufahren, die für die Krise verantwortlich seien, anstatt das einzig Vernünftige zu tun, nämlich die Notbremse zu ziehen.
Greta Thunberg hat ein diagnostiziertes Asperger-Syndrom. Wenn sie spricht, tut sie das mit monotoner Stimme und scheinbar emotionslos. Eine Stimmungskanone ist sie definitiv nicht. Viel zu ernst ist das Thema und die Endzeitstimmung, die damit einher geht, und viel zu drängend die Zeit, um noch etwas zu retten. Über Asperger-Kinder heisst es, sie hätten Schwierigkeiten im Zwischenmenschlichen, können nur eingeschränkt sozial interagieren, seien oft schüchtern und abweisend. Sie selbst kommen sich oft fremd in dieser Welt vor und nennen das «Wrong Planet Syndrome», oder auf Deutsch: «Falscher-Planet-Syndrom».
Greta Thunberg kämpft aber für genau diesen «falschen» Planeten, unsere Erde. Sie tut das nicht in Abgeschiedenheit, sondern tritt vor Menschen auf. Dabei provoziert sie mehr als nur soziale Interaktion auf Small-Talk-Niveau. Während sie das Grosse und Ganze und somit die gesamte menschliche Gemeinschaft im Blick hat, engagieren sich unsere politischen und wirtschaftlichen Führer oft nur für nationale oder gar lokale Interessen. Zum Jahresende herrscht wenig Grund, die Korken knallen zu lassen. Selbst wenn die Hoffnung aber schwindet, dass das Ruder noch herumgerissen werden kann, so bleibt uns als Menschen dennoch die Verantwortung für unseren Planeten. Eine Verantwortung, die ich als Muslimin auch vor Gott trage. Das ist eine verbindende und verbindliche Gemeinsamkeit, die wir mit jüdischen und christlichen Gläubigen teilen.
Erschienen als Kolumne im Bieler Tagblatt am 29. Dezember 2018
© Amira Hafner-Al Jabaji 2018