10 Jahre «Leitfaden für den interreligiösen Dialog»: Folge 2
Die Spannung zwischen dem Grundrecht der Gleichstellung der Geschlechter und dem Grundrecht der Religionsfreiheit hat seit der Veröffentlichung des Leitfadens an Brisanz gewonnen. Viele Religionsgemeinschaften weisen Strukturen auf, die Frauen diskriminieren, und verletzen damit das verfassungsmässige Grundrecht der Geschlechtergerechtigkeit. Dies gilt auch für einige öffentlich-rechtlich anerkannte Religionsgemeinschaften. Der Staat gewichtet ihr Selbstbestimmungsrecht jedoch höher als das Diskriminierungsverbot – eine Praxis, die zunehmend hinterfragt wird.
In der Bundesverfassung ist das Grundrecht der Gleichstellung von Mann und Frau (Art. 8, Abs. 3 BV) und ebenso das Grundrecht, nicht diskriminiert zu werden (Art. 8, Abs. 2), garantiert. Doch viele Religionsgemeinschaften verletzen das verfassungsmässige Grundrecht der Gleichstellung der Geschlechter. Die Kantone, die das Verhältnis zwischen sich und den Religionsgemeinschaften regeln, könnten daher von den Religionsgemeinschaften verlangen, dass sie die geltende Rechtsordnung und damit auch die Geschlechtergerechtigkeit einhalten – insbesondere dann, wenn sie staatliche Anerkennung geniessen und vom Staat Geldleistungen oder andere Privilegien erhalten.
In der Diskussion um die öffentlich-rechtliche Anerkennung des Islams wird u.a. häufig die fehlende Gleichstellung von Mann und Frau als Argument gegen eine Anerkennung angeführt. Gleichzeitig geniesst die römisch-katholische Kirche den Status der öffentlich-rechtlichen Anerkennung und profitiert damit von staatlichen Privilegien, obwohl sie in ihrer internen kirchenrechtlichen Ordnung mit dem Ausschluss der Frauen vom Priesteramt gegen den Gleichstellungs- und Diskriminierungsartikel in der Bundesverfassung verstösst. Auch mehrere jüdische Gemeinden in der Schweiz sind öffentlich-rechtlich anerkannt, darunter die orthodox geführte Israelitische Gemeinde Basel, obwohl auch in ihnen Mann und Frau nicht gleichgestellt sind. Wie sich zeigt, wird in Bezug auf die öffentlich-rechtliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften mit unterschiedlichen Ellen gemessen. Das heisst: An die muslimische Religionsgemeinschaft werden andere Anforderungen gestellt, was aus staatsrechtlicher Sicht höchst problematisch ist. Der Entscheid, welche Religionsgemeinschaften kantonal anerkannt werden, ist letztlich also politisch geprägt und im Fall des Islams von negativen Stereotypen und muslimfeindlichen Haltungen genährt.
Zwei Grundrechte im Konflikt
Juristisch betrachtet stehen bezüglich der Gleichstellung der Geschlechter in den Religionsgemeinschaften zwei gleichrangige Grundrechte in Spannung: das Recht auf Gleichstellung und Schutz vor Diskriminierung (Art. 8 BV) und das Recht auf Religionsfreiheit (Art. 15 BV).[1] Aktuell ist die rechtliche und politische Praxis so, dass der Staat im Fall der römisch-katholischen Kirche und einiger orthodoxer jüdischer Gemeinden die Religionsfreiheit über das Grundrecht der Gleichstellung der Geschlechter stellt, das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften also höher gewichtet als das Diskriminierungsverbot. Dies widerspricht nicht nur dem gesellschaftlichen Grundwert von Geschlechtergerechtigkeit, sondern stösst im Fall der römisch-katholischen Kirche auch bei den eigenen Mitgliedern zunehmend auf Unverständnis und Kritik – nicht zuletzt, weil der Ausschluss von Frauen aus den Weiheämtern mit theologisch unhaltbaren Argumenten begründet wird, wie etwa, dass Jesus nur Männer als Apostel berufen habe und die Kirche daher keinerlei Vollmacht habe, Frauen die Priesterweihe zu spenden.[2]
Eine repräsentative Umfrage zur Reputation der römisch-katholischen Kirche, deren Ergebnisse im Februar 2025 veröffentlicht wurden[3], zeigt, dass ihr Image immer negativer wird: nur 15% der Befragten haben ein positives Bild von der katholischen Kirche, und selbst unter den Kirchenmitgliedern sehen nur 38 % die eigene Kirche positiv. Als wichtigste Gründe für die schlechte Reputation wurden die Haltung zur Frauenordination bzw. die Diskriminierung von Frauen, die Missbrauchsfälle und die konservative Haltung in gesellschaftspolitischen Fragen angegeben. Es fragt sich, wie lange sich die aktuelle Gewichtung im Spannungsverhältnis der beiden Grundrechte – Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften versus Gleichstellung von Mann und Frau – in Bezug auf die römisch-katholische Kirche noch halten lässt.
Kirchliche Frauendiskriminierung widerspricht der Rechtsordnung
Das Selbstbestimmungsrecht der römisch-katholischen Kirche sei nicht sakrosankt, hält die Juristin und emeritierte Titularprofessorin für kantonales Staatsrecht Denise Buser fest. «Es gibt in der Schweiz keine Gesetzesbestimmung dazu. Vielmehr ist es eine wohlwollende Ableitung der juristischen Lehre. Diese wohlwollende Haltung kann auf staatlicher Seite durchaus abnehmen.»[4] Es stelle sich die Frage, wie lange die Selbstbestimmung der römisch-katholischen Kirche staatlicherseits noch vorbehaltlos hingenommen wird. Denn im Grunde werde die Selbstbestimmung der Kirche bei der Frage der Frauendiskriminierung rechtswidrig ausgeübt, zumal sie der schweizerischen Rechtsordnung und internationalen Grundrechtsstandards klar widerspreche. Hier hätte der Staat Handlungsspielraum, indem er bei der Ausrichtung von Unterstützungsleistungen, wie sie derzeit die römisch-katholisch Kirche z.B. durch das Einziehen der Kirchensteuern erhält, auf das Einhalten der Rechtsordnung samt dem Grundrecht der Gleichstellung pocht und – anders als jetzt – das Grundrecht der Nichtdiskriminierung höher gewichtet als das Grundrecht der Religionsfreiheit.
Es ist davon auszugehen, dass in einer immer säkularer werdenden Gesellschaft – 2023 machten Menschen ohne Religionszugehörigkeit bereits 35,6 der Schweizer Wohnbevölkerung aus – die Frage der Menschenrechte und der Gleichstellung der Geschlechter auch in Bezug auf die römisch-katholische Kirche an Dringlichkeit gewinnt und die gesellschaftliche Akzeptanz schwinden wird, ihr weiterhin einen staatlichen Sonderstatus zu gewähren.
Ungleichbehandlung von Religionsgemeinschaften
Die aktuelle rechtliche und politische Praxis, die Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften über den verfassungsmässigen Grundsatz der Nichtdiskriminierung und der Gleichstellung von Mann und Frau zu stellen, ist nicht nur aus gleichstellungspolitischer Sicht zu kritisieren. Sie schafft auch eine rechtliche Asymmetrie und führt zu einer Ungleichbehandlung von Religionsgemeinschaften.[5] Während einige Gemeinschaften trotz frauendiskriminierender Strukturen staatliche Anerkennung geniessen, bleibt anderen diese verwehrt.
Es stellt sich die Frage, wie lange eine solche Situation noch haltbar ist. Im Hinblick auf den Grundsatz der Geschlechtergerechtigkeit wie auch der Rechtsgleichheit wäre es nötig, dass der Staat das derzeitige Verhältnis zwischen sich und den verschiedenen Glaubensgemeinschaften neu und gerechter regelt. Aus Gründen der Rechtsgleichheit sollte er von allen Religionsgemeinschaften verlangen, dass sie die geltende Rechtsordnung und damit auch das Grundrecht der Gleichstellung von Mann und Frau einhalten. Ebenso sollten nicht-christliche Religionsgemeinschaften, die die rechtlichen Anforderungen erfüllen, nicht dauerhaft von der staatlichen Anerkennung ausgeschlossen bleiben. In einer religiös pluralistischen Gesellschaft ist es entscheidend, dass der Staat eine faire und einheitliche Behandlung aller Religionsgemeinschaften gewährleistet – ohne diskriminierende Doppelstandards.
Staatliche Anerkennung bedeutet nicht nur finanzielle Unterstützung. Sie ist auch ein wichtiges Zeichen der Akzeptanz nicht-christlicher Religionsgemeinschaften durch die Mehrheitsgesellschaft. Dieses Zeichen trägt nicht nur der veränderten religiösen Landschaft der Schweiz Rechnung, sondern schützt und fördert auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
[2] Zur Stellung der Frauen in der römisch-katholischen Kirche und den jüdischen Gemeinden in der Schweiz und den Argumenten gegen die Gleichstellung der Frauen siehe die ausführliche Studie des Interreligiösen Think-Tank: «Rabbinerinnen, Kantorinnen, Imaminnen, Muftis, Pfarrerinnen, Bischöfinnen, Kirchenrätinnen … Leitungsfunktionen von Frauen im Judentum, im Christentum und im Islam», Basel 2011, 37-40. https://www.interrelthinktank.ch/rabbinerinnen-kantorinnen-imaminnen-muftis-pfarrerinnen-bischoefinnen-kirchenraetinnen/
[3] Religionsbefragung Katholische Kirche, Abschlussbericht Februar 2025. https://www.zhkath.ch/ueber-uns/publikationen/handbuecher/religionsbefragung_katholischekirchekantonzurich_abschlussbericht_februar2025.pdf
[4] Denise Buser, a.a.O.
[5] Siehe dazu auch Interreligiöser Think-Tank: «Leitfaden für den interreligiösen Dialog», Basel 2013, 9-11.