Schluss mit Opfer?
Letztes Wochenende fand das wichtigste islamische Fest, das Opferfest (arabisch: Eid alAdha, türkisch: Kurban Bayramı) statt. Eine passende und hochgradig inspirierende Lektüre dazu hatte ich kurz zuvor beendet. Sie stammt notabene nicht von einem muslimischen Gelehrten, sondern vom britischen Literaturtheoretiker und Philosophen Terry Eagleton. Was hat mich dazu bewogen, dieses neuerschienene Buch mit dem Titel: «Opfer. Selbsthingabe und Befreiung» zu kaufen? Ist nicht schon alles zu diesem Thema gesagt? Ist sich der Zeitgeist nicht einig, dass Opfern, zumindest im Sinne des Tötens eines Lebewesens für eine höherer Sache, eine archaische Angelegenheit ist, die in zivilisierten Gesellschaften überwunden ist und nur noch von rückständigen Barbaren praktiziert wird? Finden es vernünftige Menschen nicht schlicht abartig, dass man ein Lebewesen für Gott opfert? Und haben nicht selbst religiöse Menschen inzwischen grosse Zweifel daran, dass ein Gott, der Opfer verlangt, oder ein Gott, der selber opfert, nicht in die heutige Zeit passt? Haben nicht auch Christinnen heute vermehrt Mühe mit dem Gedanken an den Opfertod von Jesus? Auch in muslimischen Ländern fragen sich heute Menschen zusehends, ob das Schlachten von Tieren als Opferritus noch mit der religiösen Grundbotschaft vereinbar ist. Für den muslimischen Kontext bedeutet das Schlachtopfer praktisch betrachtet nicht anderes, als eine übliche, nach islamischen Regeln vorgenommene Schlachtung, einzig, dass man sie aus Anlass des Opferfestes und im Gedenken an Abraham und der geplanten Opferung seines Sohns vornimmt. Das Fleisch der Opfertiere muss mit anderen geteilt werde. Dieses Gebot besteht nicht, wenn ein Tier zum üblichen Verzehr und nicht als Opfer geschlachtet wird. Auch wenn hier ein sozialer Aspekt offenkundig wird, so schleckt doch keine Geiss weg, dass rituelles Massenopfern noch stossender wirkt als nicht-rituelles Massenschlachten in Schlachthöfen. Was also erwarte ich als Muslimin von einem durch und durch westlichen und noch dazu marxistisch geprägten Denker, der mit Religion wenig am Hut haben dürfte? Der Text auf dem Buchrücken erstaunt: Terry Eagleton sieht im Opfer(n) nicht weniger als die Grundlage von traditioneller und moderner Gesellschaftsordnung und eine zentrale Bedeutung für Geschichte und Emanzipation der Menschheit. Und bereits in seinem kurzen Vorwort, stellt er pointiert fest, er habe anders als viele Linke keine ablehnende Haltung gegenüber Theologie und sei überzeugt, dass «sehr viele weltliche Meinungen über die jüdischen und christlichen Traditionen auf grosser Voreingenommenheit und abgrundtief schlechter Information fussen». Im Buch trägt Eagleton einen Haufen bedenkenswerter Beobachtungen und Aussagen verschiedenster Philosophen und aus Literatur, Filmen und religiösen Quellen zusammen und kommt zu erstaunlichen Befunden über die tiefere Bedeutung des Opfers(n)s. Man muss nicht mit allem einverstanden sein, aber mitnichten kann man behaupten, dass zu diesem Thema schon alles gesagt sei. Weiterdenken lohnt sich. Dass sich Eagleton auf die jüdische und vor allem christliche Kultur bezieht und nicht einmal einen Versuch unternimmt, sich dem Thema über islamische Denker anzunähern, finde ich persönlich bedauerlich, mache es dem Autor aber nicht zum Vorwurf. Denn Eagleton schreibt, worüber er Kenntnis hat, um nicht selbst, wie er das anderen säkularen Denkern vorwirft, im Bereich der Theologie «Gefahr zu laufen in einen Sumpf aus Klischees und Missverständnissen zu stolpern.» Nun wäre es an jungen muslimischen und nicht-muslimischen Akademikerinnen Eagletons Gedanken aufzunehmen und sie auf den Islam bezogen zu untersuchen: tiefgründig und unvoreingenommen.
Erschienen als Kolumne (leicht gekürzt) im Bieler Tagblatt am 8. August 2020
© Amira Hafner-Al Jabaji 202